Punkt 18.45 Uhr steigen zwei alte Herren aus einem Reisebus an der Martin-Luther-Straße im West-Berliner Bezirk Schöneberg. Sie blicken in den blauen Himmel der Stadt mit seinen kleinen Kumuluswolken. Beide schließen kurz die Augen – die Sonne blendet. Zwei Jahre ihres Lebens flogen sie in diesen Himmel mit ihren DC-54. Zwei Jahre gingen sie aus 10.000 Fuß Höhe in den Sinkflug, um sich dann über Ruinen schraubend nach unten zu bewegen. Der 94jährige Norman Crane und der 96jährige Ralph Dionne waren Bordmechaniker der sogenannten Rosinenbomber. Der Flugzeuge, die den Berlinern nach dem Krieg in einer unvorstellbaren logistischen wie auch fliegerischen Meisterleistung das Überleben garantierten. 75 Jahre Luftbrücke. Wohl zum letzten Mal werden die beiden Kameraden Deutschland besuchen.
„Wissen Sie, schon als Kind wollte ich fliegen“, sagt Dionne. „Als ich geboren wurde, flog noch Charles Lindbergh über den Atlantik.“ Die beiden alten Soldaten sitzen in der Lobby des Hotels. Ohne Umschweife erzählen sie. Dionne ist zierlich. Auf seinem Kopf eine dunkelblaue Mütze, die TV-Zuschauer aus US-Kriegsfilmen kennen. Bunt bestickt. Norman Crane hingegen ist großgewachsen, er lächelt oft verschmitzt. Jetzt sitzt er still neben seinem Kameraden, hört aufmerksam zu. Die Reise, die vielen Besuche, all das hat ihn etwas müde gemacht.
Als Dionne seinen Dienst in der Air Force beginnt, am 6. September 1946, ist Lindbergh tot und der Zweite Weltkrieg seit einem Jahr beendet. Millionen von Toten. Städte verwüstet. Doch immer noch sind Menschen auf der Flucht, in Kriegsgefangenenlagern. Sie haben den Tod vor Augen – jeden Tag. Doch Dionne wird nicht kämpfen. Er wird geschult. Auf Maschinen, die noch zwei, drei Jahre zuvor ihre tödliche Bombenfracht über Würzburg, Hamburg, Pforzheim oder Dresden entluden. Dionne wird einem anderen Auftrag dienen, eine andere Mission haben: Leben retten. „An der Informationstafel in unserer Baracke in Boston tauchte eine Liste mit Namen auf. ‘Sie haben 72 Stunden, um sich auf die Abreise vorzubereiten.’“ Ziel war Deutschland. Seine Mechanikerkiste mußte Dionne selbst mitbringen. „Wir sind um Mitternacht in Deutschland angekommen, stationiert waren wir in Frankfurt am Main.“ Doch die Amerikaner transportierten in ihren Sektor nicht nur Soldaten aus den USA. „Es kamen auch Männer aus dem Pazifik, die dort gekämpft hatten.“ In Hessen wurden alle gesammelt. „Es waren so viele, daß die Deutschen aus ihren Wohnungen und Häusern mußten, dort wurden wir untergebracht.“ Es entwickelten sich wohl keine Freundschaften, aber eine kleine Wirtschaft. Die Deutschen arbeiteten für die US-Amerikaner: putzten, wuschen die Uniformen. Die Währung waren Zigaretten.
Alles hatte nur ein Ziel: Berlin, jedenfalls der westliche Teil der Stadt, mußte gegen die Sowjets gehalten werden. Es war der offensichtliche Beginn des Kalten Krieges in Europa. Rückblick: Der Schwarzmarkt blüht, Währungsüberhang, die Wirtschaft scheint zu implodieren. Es muß ein gemeinsames Konzept her. Doch im März 1948 zieht sich die Sowjetmacht unter Josef Stalin aus dem Alliierten Kontrollrat zurück. Das heißt, daß an eine gemeinsame Währung in Gesamtdeutschland nicht mehr zu denken ist. Die drei West-Alliierten verkünden am 18. Juni, ohne Stalin, eine Währungsreform. Daraufhin sperren die Russen ab 19. Juni den Straßen- und Personenverkehr von und nach Berlin, um sich, wie sie erklären, vor einer Flut von wertlosen Reichsmark zu schützen. Am 20. Juni führen die Westalliierten die Währungsreform ein. Die Sowjets führen sie für ihren Teil am 23. Juni ein. Bis zum 29. Juni hat die Rote Armee alle Land- und Wasserverbindungen von und nach den drei Westsektoren Berlins gekappt. Einzig der Luftraum ist noch offen.
Image der Besatzer verbesserte sich mit jeder Tonne Koks und Mehl
Schon einen Tag zuvor, am 28. Juni landen die ersten US- und britische Maschinen in Tempelhof und Gatow. Doch das wird bei weitem nicht reichen. Später bauen die Deutschen im französischen Sektor den Flughafen Tegel – innerhalb von drei Monaten. Es wäre übrigens viel effektiver gewesen, deutsche Luftwaffenpiloten mit deutschen Maschinen fliegen zu lassen. Das wurde von den Alliierten aus Propagandagründen allerdings abgelehnt. Aus Propagandasicht ein kluger Schachzug, wie sich herausstellen sollte. Das Image der Besatzer verbesserte sich mit jeder Tonne Koks, Mehl, Kartoffeln und mit jedem Bonbon, der an kleinen Papiertüchern, die sich wie Faltschirme ausbreiteten und von den Piloten im Landeanflug auf die hungernden Kinder geworfen werden, Berlin erreichen.
Dionne erinnert sich, daß sein erster Anflug auf Tegel im Winter war. „Es herrschte viel Nebel, aber kein Schnee.“ Er saß auf dem dritten Stuhl hinter dem Co-Pilotensitz in der Kanzel der viermotorigen C-54. Dionne war im Rang eines Sergants der US Air Force. Wenn er den Anflug auf Berlin erklärt, über die drei Luftkorridore, dann spreizt er manchmal ein wenig die Arme, so als seien sie die Flügel der Maschine. „Jeder Flug war Koks, immer nur Koks“, sagt Dionne. Auch Crane saß in dem Cockpit der C-54. Die USA hatten die Maschinen zu Kokstransportern umgebaut. „Und wenn wir wieder abflogen, haben wir den Notausgang geöffnet, um den Kohlestaub loszuwerden“, erklärt Crane. „Der Sog zog ihn raus“, und die Maschinen waren bei der Landung in Frankfurt wieder blitzeblank.
„Wir flogen immer in einer Höhe von rund 10.000 Fuß, wie in einer Kette“, sagt Dionne. Es muß ein höllischer Lärm gewesen sein, wenn die Tausenden von Luftfrachter mit ihren 18-Zylinder-Doppelsternmotoren von Pratt & Whitney mit jeweils 1.400 PS die Luftmassen zerschlugen. Es kam zu regelmäßigen Staus im Luftraum. Teils sehr gefährlich bei schlechter Sicht. Denn in den drei Korridoren, zwei zum Hin- und einer zum Rückflug, flogen die Maschinen in fünf Ebenen mit einem Höhenabstand von 500 Fuß.
In Zwölf-Stunden-Schichten versorgten die Soldaten Berlin. „Es wurde gezählt: Pilot, Copilot, Mechaniker, und raus! Los ging es!“ Eine feste Bordcrew gab es nie. Bei Dionne sollte der Einsatz, so war es geplant, neunzig Tage dauern – er wurde doppelt so lang. 83 Menschen starben während des Berliner Luftbrückeneinsatzes. Dionne hatte nur einen Beinaheunfall. „Das war nach dem Take-Off in Tempelhof, da ist einmal der Antrieb ausgefallen, wir sind knapp über die Autobahn gerauscht – passiert ist aber weiter nichts.“ Bei Crane war es anders. Der brach sich den rechten Unterschenkel, weil die Bremsen versagten und die Maschine über die Nase abkippte.
Nach dem Einsatz ging Dionne für vier Jahre nach Boston, zum Studieren. Er heiratete. Mit der Militärfliegerei wollte seine Frau aber nichts zu tun haben. Heute ist er Präsident der Vereinigung der US-Veteranen der Luftbrücke. Zum 75 Jahrestag schrieb er dreißig Kameraden an. „Zehn waren verstorben, vier sind gekommen.“ Zwei US-Amerikaner und zwei Briten. „Aber ob ich noch einmal nach Deutschland reisen werde, also zum 80. Jahrestag, bin ich mir nicht so sicher. Obwohl, dann bin ich 101 Jahre alt, wer weiß das schon.“
Foto: Veteranen der Luftbrücke am 12. Mai 2024 in Berlin: 83 Kameraden starben im Einsatz