© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 23/24 / 31. Mai 2024

Zwischen allen Stühlen
Serie Bewegende Köpfe, Teil 12: Kurt Eisner, bayerischer Minister-präsident 1918/19 als linker Schwärmer, Aufwiegler und Revolutionär
Rainer F. Schmidt

Der Mann, der inmitten der Nebelschwaden des trüben 23. Novembers 1918 am Münchener Bahnhof in ein Zugabteil erster Klasse stieg, führte eine Ladung Dynamit mit sich. Es war kein Sprengstoff im herkömmlichen Sinne. Was Kurt Eisner auf seiner Fahrt zu einer Konferenz in der Hauptstadt mit sich führte und sorgfältig in seiner zerknitterten Mappe verstaut hatte, war ein Bündel von Dokumenten. In Berlin schlug es wie eine Bombe ein. Ihre Detonation sollte ihn binnen weniger Wochen selbst das Leben kosten. 

Es waren die Abschriften von Geheimberichten des bayerischen Gesandten in Berlin, die aus der Julikrise von 1914 stammten. Darin stand zu lesen, daß die Reichsregierung ihren österreichischen Verbündeten zu einem unnachgiebigen Vorgehen gegen Serbien aufgestachelt hatte, und daß die Verletzung der belgischen Neutralität von langer Hand geplant war. Der Weltkrieg war, so war er überzeugt, von der Regierung bewußt ausgelöst worden. Er hielt den Beweis für die deutsche Kriegsschuld in seinen Händen. Und dieser Beweis, so hatte er es eingefädelt, sollte am nächsten Tag in der Presse veröffentlicht werden, um die Öffentlichkeit, zwei Wochen nach dem Waffenstillstand von Compiègne, aufzurütteln, ihr endlich die Augen zu öffnen und die sich in Paris versammelnden Siegermächte zu einem milderen Frieden zu bewegen.

Begonnen hatte all dies in Berlin, wo Eisner vier Jahre vor der Reichsgründung als Sohn eines jüdischen Textilfabrikanten, der als Hoflieferant für Uniformzubehör wohlsituiert war, in eine bürgerliche Familie hineingeboren wurde. Sein Studium der Philosophie und Germanistik hatte er, wie so viele seiner linken Epigonen, abgebrochen. Seither schlug er sich als Nietzsche-Kritiker und kümmerlich bezahlter Journalist mehr schlecht als recht durchs Leben. 

Seine finanzielle Misere hinderte ihn jedoch nicht daran, 1892 die Malerin Lisbeth Hendrich zu ehelichen, mit ihr fünf Kinder in die Welt zu setzen und die junge Familie dann, im Frühjahr 1907, wie es seiner antibürgerlichen Lebenseinstellung entsprach, wegen einer Jüngeren sitzenzulassen. Kurzerhand setzte er sich nach Nürnberg ab, um Chefredakteur der Fränkischen Tagespost zu werden. Diese späte Karriere hatte er seiner spitzen Feder zu verdanken, die ihn nach einer Majestätsbeleidigung für neun Monate in die Haftanstalt Plötzensee brachte. Das lenkte die Aufmerksamkeit Wilhelm Liebknechts auf den damals 31jährigen, um ihn 1898 in die Redaktion des Vorwärts zu holen, als „eine scharfe Klinge, die hoffentlich auch manchen Kopf abschlägt“.

Eisners Gastspiel in der SPD endete allerdings schon zehn Jahre später. Mit seinem Konzept eines „ethischen Sozialismus“, mit dem er eine Debatte um soziale Gerechtigkeit anstoßen wollte, war er nicht durchgedrungen. Die Parteiflügel richteten sich vielmehr entlang der pragmatischen Revisionisten um Eduard Bernstein auf der einen und die weltrevolutionären, orthodoxen Marxisten um Rosa Luxemburg auf der anderen Seite aus. Seither galt er als Schwärmer, Phantast und „Gemütssozialist“, zumal er die staatsfromme Parteilinie, im Weltkrieg den Burgfrieden zu bewahren, scharf kritisierte und davor warnte, die Mär vom „Verteidigungskrieg“ nachzuschwatzen. Als radikaler Pazifist und Antimonarchist schloß er sich der neu gegründeten USPD an und agitierte fortan als Theaterredakteur der Münchener Post gegen den Krieg auf seine Weise: durch die „Revolutionierung der Köpfe“, wie er seine Methode der Aufwiegelung der Massen nannte. Allwöchentlich hielt er im Gasthaus „Zum goldenen Anker“ in der Ludwigsvorstadt Kundgebungen ab. Hier rief er mit flammendem Blick und ungezügelter Agitationsrhetorik, einem Messias gleich, die Erlösung aus: den Krieg durch zivilen Ungehorsam, durch Boykott und Aufstand im Innern zu beenden. Freilich: Mit umstürzlerischen Parolen gab er sich nicht zufrieden. Im Januar 1918 organisierte er einen Streik der Munitionsarbeiter, was ihn als Rädelsführer einige Monate ins Gefängnis brachte.  

Rechtzeitig vor dem Kriegsende war er wieder da. Jetzt, in den revolutionären Umwälzungen des Novembers, kam seine Stunde. Die Arbeiter- und Soldatenräte machten ihn, den Visionär und Preußenimport, zum Ministerpräsidenten in Bayern. In seiner gut hunderttägigen Amtszeit setzte er den Achtstundentag für die Arbeiter und das Wahlrecht für Frauen durch und trat für eine Donauföderation in Form eines separatistischen Zusammenschlusses Bayerns mit Österreich und der Tschechoslowakei ein. Die Abschaffung der kirchlichen Schulaufsicht und des Religionsunterrichts quittierte die katholische Kirche mit erbittertem Zorn und diffamierenden Wutausbrüchen. Kardinal Faulhaber bezeichnete die Verordnung als schwerwiegender „als der Blutbefehl des Herodes“. Und der Apostolische Nuntius, Eugenio Pacelli, der spätere Papst Pius XII., wurde in einem Bericht an den Vatikan noch ausfallender. Eisner sei „Atheist, Radikalsozialist, unversöhnlicher Propagandist, Busenfreund russischer Nihilisten und noch dazu galizischer Jude.“ Damit war er zwischen alle Stühle geraten. Der bolschewistischen Linken war er nicht radikal genug, und für die monarchistische Rechte war er ein Vaterlandsverräter. Selbst der sozialdemokratische Vorwärts hielt sich nicht zurück. Er verunglimpfte den ehemaligen Parteigenossen als „eingewanderten Berliner Literaten“, der in einer „Welt des holden Wahnsinns“ lebe. 

Die Quittung dieser Kampagne kam im Januar 1919, als er mit gerade mal 2,5 Prozent der Stimmen eine krachende Wahlniederlage einfuhr. Am 21. Februar hatte sein 22jähriger Mörder, Anton Graf von Arco auf Valley, der Eisner zwei Kugeln in den Hinterkopf schoß, zuvor folgendes auf einen Zettel notiert: „1.: strebt verdeckt nach Anarchie, um sein und der Räte Bleiben zu erreichen; 2.: ist Bolschewist; 3.: ist Jude; 4.: ist kein Deutscher; 5.: fühlt nicht deutsch; 6.: untergräbt jedes vaterländische Denken und Fühlen; 7.: ist ein Landesverräter. Das ganze Bayernvolk ruft: weg mit ihm.“ 

Die Mordtat, unmittelbar vor dem Landtag in der heutigen Faulhaberstraße, stürzte Bayern ins Chaos von bolschewistischem Terror und blutigem Bürgerkrieg, der die Rätebewegung dann am Palmsonntag ausrottete. Die sogenannte „Ordnungszelle Bayern“ aber, die jetzt als Bollwerk gegen das rote „Sündenbabel“ Berlin in Stellung gebracht wurde, wurde zur Keimzelle einer später kommenden Katastrophe. 



Prof. Dr. Rainer F. Schmidt lehrte Neueste Geschichte und Didaktik der Geschichte am Institut für Geschichte der Universität Würzburg.