© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 23/24 / 31. Mai 2024

Sonnenkönig und Betriebsunfälle
Albrecht Rothacher legt eine beeindruckende Schau der österreichischen Kanzler seit 1945 vor
Lothar Höbelt

Albrecht Rothacher zählt zu den Weltbürgern, die nicht den Phrasen verhaftet sind, die mit diesem Etikett so oft verbunden sind. Der gebürtige Franke hat in mehreren Erdteilen studiert und gearbeitet, für die EU-Diplomatie in Wien genauso wie als Wissenschaftler und Publizist in Singapur oder Tokio. Im Ruhestand hat er sich auf Kollektivbiographien spezialisiert, von den EU-Kommissaren über die französischen Präsidenten der V. Republik bis jetzt eben zu den Kanzlern der Zweiten Republik Österreich, die man vielleicht als Hommage an seine Wahlheimat Kärnten auffassen könnte. Da geht es notwendigerweise beträchtlich biederer zu als bei den de Gaulles und Delors der Grande Nation. Insgesamt handelt es sich bei den Portraits um dreizehn Herren und eine Dame, wobei Brigitte Bierlein, eine unabhängige Richterin, 2019 bis zu den Neuwahlen einer Übergangsregierung vorstand.  

Nach der Farbenlehre lassen sich die Kanzler leicht einteilen, zumindest bis zur Jahrtausendwende: Ein Vierteljahrhundert „schwarze“ Kanzler (da hätten sich manche von der älteren Sekundärliteratur kolportierten Legenden inzwischen übrigens auch schon durch Ministerrats- und Fraktionsprotokolle ergänzen lassen); dann dreißig Jahre „rote“ Vorherrschaft, darunter die zwölf Jahre des „Sonnenkönigs“ Bruno Kreisky, der – als europäisches Unikum – dreimal hintereinander eine absolute Mehrheit an Stimmen und Mandaten errang. Das Jahr 2000 schließlich erwies sich als ein „Wendejahr“ von europäischer Dimension: Die erste schwarz-blaue Koalition unter Wolfgang Schüssel führte anfangs zu empörtem Gekläffe der EU-Partner – was nichts daran änderte, daß sie binnen kurzem, von Italien bis Dänemark, mehrfach nachgeahmt wurde.

Und dann, ja dann folgte ab 2007 das, was Rothacher nicht ganz zu Unrecht die „neue Beliebigkeit“ nennt, mit ihrer atemlosen Jagd nach medialer Aufmerksamkeit, wobei die Kronen-Zeitung als Gegengewicht zu den linkslastigen öffentlich-rechtlichen Sendern lange Zeit allerdings eine positive Rolle spielte. In immer schnellerem Tempo gaben einander zunächst drei SPÖ-, dann drei ÖVP-Kanzler die Klinke in die Hand. Grund dafür waren in erster Linie innerparteiliche Befindlichkeiten, die stets aufs neue Kompromiß- und Verlegenheitskandidaten an die Oberfläche spülten, die keine besondere Richtung vertraten, sondern bloß von der Hoffnung begleitet wurden, beim Wähler besser anzukommen als der Vorgänger – und den Herren in den Hinterzimmern, von den schwarzen Landeshauptleuten bis zu den roten Gewerkschaftsbossen, nicht ins Handwerk zu pfuschen. Jüngst war in diesem Zusammenhang sogar von „Betriebsunfällen“ die Rede! Zu diesen Beliebigen zählt Rothacher auch Sebastian Kurz, mit 31 Jahren der mit Abstand jüngste unter den Kanzlern. Nun, vom Auftreten ist diese Charakteristik plausibel – und dabei doch ein wenig unfair. Immerhin hat Kurz hinter dem Mantel glatter Beliebigkeit 2017 eine vielversprechende neue Wende eingeleitet – auch wenn er sich zwei Jahre später vom läppischen „Ibiza“-Video ins Bockshorn jagen ließ und der Versuchung erlag, in der Folge mit den Grünen zu koalieren – ein Fehler, den inzwischen wohl kaum jemand mehr bereut als er. 

Das Spezifikum von Rothachers Studie liegt freilich nicht bloß im Abarbeiten von Regierungsprogrammen und den üblichen Korruptionsskandalen, deren Wirkung auf das abgebrühte österreichische Publikum er vielleicht zu überschätzen geneigt ist, sondern in der Analyse des Werdegangs seiner Protagonisten. Gerade da ergeben sich zwei auf den ersten Blick überraschende Paradoxien. Zum einen die geographische Herkunft seiner Helden: Das Schwergewicht Österreichs hat sich seit 1945 deutlich nach Westen verschoben. Doch die einzigen beiden Kanzler, die nicht aus Wien und seinem Umland Niederösterreich kamen, Alfons Gorbach und Josef Klaus, regierten in den sechziger Jahren. 

Noch viel auffälliger vielleicht: Der Akademiker-anteil ist in Österreich – wie anderswo auch – seit 1945 ständig im Steigen begriffen. Doch ausgerechnet bei den Spitzenrepräsentanten der Politik zeichnet sich ein gegenläufiger Trend ab. Gerade unter den Beliebigen sind bis auf den Diplomaten Graf Alexander Schallenberg – mit 56 Tagen der Kurzzeitkanzler per excellence – Akademiker inzwischen Mangelware. Allenfalls Diplome von Schmalspur-Colleges finden sich; zuweilen auch Dünnbrett-Abschlußarbeiten in Politologie, die eine Zusammenfassung der letzten eigenen Wahlkampagne darstellten. Ein Kanzler fand sogar sein Abiturzeugnis nicht mehr – an seiner Schule war das Original tragischerweise verlorengegangen. Berufspolitiker waren die Kanzler früher oder später alle, aber bis 2007 doch mit einer soliden Ausbildung und langjähriger beruflicher Praxis. Inzwischen nähern sich so manche Vordienstzeiten in parteinahen Institutionen verdächtig dem „Prekariat“.

Erosion der Parteiapparate trifft SPÖ noch härter als die ÖVP

Die „Beliebigen“ haben ihre Chancen genutzt; das steht ihnen zu. Für die Erosion der Parteiapparate und der dahinter stehenden Weltanschauungen kann man sie schwerlich verantwortlich machen. Dieser Trend traf und trifft die SPÖ viel härter als die ÖVP, die um Ideologie immer schon einen großen Bogen machte und über ihre „Bünde“ (Bauern, Beamte und Wirtschaftstreibende) weiterhin eine ansehnliche Zahl von Karteileichen im Gepäck mit sich führt. Die Mitgliederzahlen der SPÖ hingegen sind im Vergleich zu ihrer Glanzzeit auf zwanzig Prozent gefallen. Wenn die sich dann – wie unlängst bei einer Urabstimmung – auf drei annähernd gleich große (oder kleine) Häufchen verteilen, ist es mit der Bodenhaftung nicht mehr sehr weit her. Da kann sich ein Kanzlerkandidat nur am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen, wenn ihm die Götter einen Wahlerfolg als Lotterietreffer bewilligen. Doch warum sollten sie das tun? 

Der Rezensent hat die gut 1.100 Seiten auf einen Sitz gelesen, und das mit Vergnügen – die Kanzler haben mir einen Krankenhausaufenthalt versüßt. Andere werden es als Nachschlagewerk konsultieren. Gerade für das 21. Jahrhundert fördert das akribische journalistische Spürvermögen des Autors immer wieder unerwartete und amüsante Informationen und Zitate zutage. Der Ruhestand hebt das Denkvermögen von Spitzenpolitikern offenbar in beeindruckender Weise – endlich können sie der lästigen Political Correctness, auf der ihre Spin-Doktoren so gnadenlos bestanden, einen Streich spielen. Da sei ihnen dann auch das eine oder andere exotische Lobbying-Honorar gegönnt. 



Prof. Dr. Lothar Höbelt lehrt Neuere Geschichte an der Universität Wien.

Albrecht Rothacher: Österreichs Kanzler. Von der Proporzdemokratie zur neuen Beliebigkeit, Bände 1–3. Gerhard Hess Verlag, Uhingen 2023, broschiert, 303, 429 und 401 Seiten, 24,80 Euro, 26,50 Euro bzw. 26,50 Euro

Foto: Der österreichische Bundeskanzler Wolfgang Schüssel (ÖVP) und sein Koalitionspartner Jörg Haider  (FPÖ) unterzeichnen in Anwesenheit von Bundespräsident Thomas Klestil (l.) die verlangte „Demokratie-Erklärung“, Wien 2000: 

Die erste schwarz-blaue Koalition führte anfangs zu empörtem Gekläffe der EU-Partner – was nichts daran änderte, daß sie binnen kurzem, von Italien bis Dänemark, mehrfach nachgeahmt wurde