Eines Tages, wenn der Zivilisationsbruch des global ausgerufenen Corona-Maßnahemenstaates in den Geschichtsbüchern auch als ein solcher thematisiert wird, findet wohl auch das prophetisch-dystopische Theaterstück „Corpus Delicti“ von Juli Zeh aus dem Jahr 2009 dort seinen gebührenden Platz. Noch aber ist in Deutschland nicht die Zeit für ein neues 1945 oder 1989. Das beweist das Harztheater Halberstadt, wo das politisch vielleicht brisanteste Stück der Gegenwart nach nur wenigen Aufführungen vom Programmplan verschwindet. Dabei beginnt es, inszeniert von Rosmarie Vogtenhuber-Freitag, mit einer klaren Ansage, die mich – Abitur an der EOS „Bertolt Brecht“ – gleich an den Verfremdungseffekt des epischen Theaters erinnert. So heißt es zur Begrüßung aus dem Off: „Wir hoffen, daß Sie ausreichend getrunken haben und bitten Sie bei Unwohlsein im Sinne aller Anwesenden das Theater zu verlassen.“ Und: „Stellen Sie Ihr Mobiltelefon auf stumm, aber lassen Sie das Gerät eingeschaltet, damit der Verfassungsschutz weiß, wo sie sind.“
Die Menschenwürde, erster Grundgesetz-Artikel, wurde im Corona-Interregnum außer Kraft gesetzt.
Dann beginnt die Zeitreise in das Jahr 2057 im System der „Methode“: Das StGB wird durch die „Gesundheitsprozeßordnung“ und der VS durch den „Methodenschutz“ ersetzt, um den gesunden Volkskörper von seinen Schädlingen zu befreien, sprich: „Kaltzustellen“ mit der Methode des Einfrierens auf unbestimmte Zeit. Als Geßlerhut fungiert die Grußformel „Santé!“ des demagogisch brillierenden Masterminds der Methode Heinrich Kramer. Unter dem Mantra „Freiheit ist: Gesundheit / Gesundheit ist: Freiheit“ werden Methodengegner, Anti-Methodisten und Anhänger des RAK (Recht auf Krankheit) verfolgt, also potentiell jeder, gilt doch bereits „unzulässige Liebe“ – bei „falscher“ Immunitätsgruppe des anderen – als Kapitalverbrechen. Augenscheinlich gilt dieser Tatbestand auch für die Bücher des von der Methode in den Selbstmord getriebenen Bruders der Protagonistin, Moritz Holl, als dessen fiktive Freundin, die „ideale Geliebte“, ein halbes Dutzend Titel in den Graben wirft: „Dostojewski, Orwell, Musil, Der Zauberberg, Krall, Agamben“, da nie gelesen. Die Schwester, Mia Holl, hat in der fiktiven Freundin, die den Freigeist ihres Bruders weitergibt, die Mentorin, die sie schließlich zum offenen Widerstand motiviert. Ihre öffentliche Anklage gegen die Methode, ein explizites Modell für den Tatvorwurf der „Delegitiemierung des Staats“, bringt ihr die Höchststrafe, die in letzter Sekunde aufgehoben wird – im Unterschied zum Zuschauer, der zurück in die Realität entlassen wird.
Vielleicht wird es wirklich bis 2057 dauern – für ein Strafgesetzbuch, in dem auch ein Paragraph zum Tatbestand der „Volksverletzung“ zu finden ist. Denn nicht nur die Menschenwürde, erster Grundgesetz-Artikel, wurde im Corona-Interregnum außer Kraft gesetzt. Und die evangelische Kirche sekundierte mit einer Losung, die mir nach dem Tod unseres Freundes, der dieser Tage durch die Booster-Impfung starb, einen dreieinigen Vers eingab: „Der Antichrist geht / Unter die Haut / Impfen ist Nächstenliebe.“