© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 23/24 / 31. Mai 2024

Zögern vor der Geburt
Literatur: Rüdiger Safranski beobachtet Franz Kafka beim Schreiben
Regina Bärthel

Gibt es über Franz Kafka noch etwas zu sagen, das nicht schon vielfach gesagt worden wäre? Immerhin gehört er nicht nur zu den wirkmächtigsten deutschsprachigen Schriftstellern des vorigen Jahrhunderts, sondern auch zu den meist kommentierten. Das Volumen an Büchern und Aufsätzen über den 1883 in Prag geborenen Schriftsteller übertrifft das seines eher schmalen Werkes bei weitem; allein die monumentale dreibändige Kafka-Biographie von Reiner Stach, in insgesamt achtzehnjähriger Arbeit entstanden, umfaßt mehr als 2.000 Seiten.

Tatsächlich droht die Vielzahl an Kafka-Exegesen aus biographischer, psychoanalytischer, religiöser oder zionistischer Sicht gleich einer Lawine die Originaltexte zu verschütten. Allerdings rufen diese rätselhaften Texte geradezu dazu auf, denn – wie Kafka selbst erkannte – „die Überlegungen, zu denen sie Anlaß geben“ sind endlos. Und in Kafkas einhundertstem Todesjahr kommen weitere Bücher, Filme und TV-Serien hinzu. 

Zu ihnen gehört auch eine Monographie des Literaturwissenschaftlers und Philosophen Rüdiger Safranski: Unter dem Titel „Kafka. Um sein Leben schreiben“ hat der Autor zahlreicher Biographien – Safranski beschäftigte sich bereits mit Goethe, Schiller, Hölderlin, Nietzsche, Schopenhauer, Hoffmann und Heidegger – sich nun auch Kafkas angenommen. Der Untertitel „Um sein Leben schreiben“ ist dabei nicht nur ein bei Kafka selbst immer wieder auftauchendes Motiv, sondern wird auch zum Leitfaden für Safranski, der für diese Monographie vornehmlich Aussagen des Autors heranzieht. Es ist ein Schritt zurück an den Ursprung, mit dem es Safranski gelingt, Autor und Werk wieder von seinen interpretatorischen Umhüllungen zu befreien. In dreizehn Kapiteln wird Kafkas Leben, die familiären Beziehungen, seine Begegnungen mit Freunden sowie mit den sein Schreiben durchaus befeuernden Frauen geschildert.

Kafkas Verhältnis zu Ehe und Familie war gespalten

Unter letzteren nimmt Felice Bauer eine Sonderstellung ein; sie ist quasi eine Muse der widerständigen Art. Es ist sicherlich keine Liebe auf den ersten Blick, als sie sich im Sommer 1912 bei Kafkas Förderer und Freund Max Brod begegnen, vielmehr beginnt Kafka das Projekt, eine „Frau mit der Schrift zu binden“. Gebunden allerdings fühlt er sich eher selbst; mit Felice taucht erstmals in seinem Leben die Idee von Heirat auf. Kafkas Verhältnis zu Ehe und Familie war bekanntermaßen gespalten: Zwar könne man nur durch eine Familie „in der Wahrheit sein“, doch hätten eine Ehefrau und Kinder sein Schreiben, diese „Ekstasen eines Höhlenbewohners“, empfindlich gestört – ebenso wie es auch das Zusammenleben mit den Eltern und Geschwistern tat.

Ein Zwiespalt, aus dem in einer rauschhaften Nacht des Schreibens „Das Urteil“ entsteht, eine Erzählung über das Aufbegehren gegen den Vater. In diesem Schreibprozeß erfährt Kafka erstmals die „vollständige Öffnung des Leibes und der Seele“, die ihn zu wahrem innerem Handeln ohne Zweifel führt. „In den ekstatischen Zuständen des Schreibens fühlte sich Kafka erst wirklich lebendig“, konstatiert Safranski. Schreiben bedeutete für ihn die eigentliche Existenz, das Erleben von Wahrheit und Selbstwirksamkeit, das Realisieren eines sinnhaften Zustands.

Zugunsten dieses wahren Lebens im Schaffens-prozeß von Literatur bevorzugt Kafka die „Nähe, in der die Ferne gewahrt bleibt“ (Safranski): Ähnlich der mittelalterlichen Minne fällt ihm die in zahllosen Briefen beteuerte Verehrung seiner weit entfernt in Berlin lebenden Geliebten leicht. Sobald sich Felice aber als real existierende Person bemerkbar macht – indem sie auf eine persönliche Begegnung dringt, seine Briefe nicht beantwortet oder seine Texte nicht kommentiert –, bricht sie als Störfaktor in Kafkas der Literatur gewidmete Welt ein. Trotz mehrfacher Ver- und Entlobung kam es daher bekanntermaßen zu keiner Vermählung.

Allerdings unterstützte diese vertrackte Beziehung nicht nur Kafkas Initialzündung als Autor, sondern auch die Entstehung des Romans „Der Prozeß“: Nach der endgültigen Trennung von Felice fühlt sich Kafka wie ein „Verbrecher nach der Tat“. Nur eine neue literarische Arbeit, so notiert Kafka ins Tagebuch, könne ihn nun aus dieser Erstarrung retten – verursacht nicht zuletzt durch Schuldgefühle, Kafkas treue Begleiter. „Der Prozeß“, jene Verhandlung innerhalb eines undurchschaubaren Systems von Anschuldigungen und bürokratischer Willkür, ist eines der tatsächlich die Zeiten überdauernden Werke des Autors (siehe Seite 16 dieser Ausgabe). Nicht zuletzt ist der Begriff der kafkaesken Situation längst in den allgemeinen Sprachschatz eingewandert – und weiterhin erlebbar.

Literatur aus den Tiefen des Unbewußten

Kafkas fiktive Welten sind doppelbödig, seine Hauptfiguren stets mit dem (Selbst-)Vorwurf der fehlenden Authentizität und eben jener unausgesprochenen, ja undefinierten Schuld behaftet. Der doppelte Boden in diesen Erzählungen und Romanen überdeckt tiefe Gruben voller böser Überraschungen – und bewirkt meist einen unvermeidbaren Fall in die Auslöschung. Ob diese Auslöschungen tatsächlich immer negativ zu werten sind, steht jedoch auf einem anderen Blatt: Katastrophische und epiphanische Momente liegen bei Kafka stets eng beieinander, wie Safranski einleuchtend darstellt; sie bedingen einander oder sind sogar deckungsgleich, wie in der 1919 veröffentlichten Erzählung „In der Strafkolonie“. 

Auch in seinen stringenten Textinterpretationen bezieht sich Safranski vornehmlich auf den in zahlreichen Briefen und Tagebüchern erläuterten Erfahrungshintergrund Kafkas. Dies zeigt sich bereits formal, indem Zitate aus den Originaltexten direkt in die Monographie einfließen, gekennzeichnet lediglich dadurch, daß sie kursiv gesetzt sind. Dies birgt die Gefahr einer Bruchstelle zwischen den Schreibstilen, die Safranski durch einen umsichtigen Sprachgebrauch – niemals überbordend oder besserwisserisch – zu vermeiden versteht. Leider aber haben einige sprachliche wie inhaltliche Wiederholungen sowie orthographische und grammatische Fehler das Lektorat überlebt.

Nach eigener Aussage hatte Kafka keine „Vorstellung von Freiheit“, damit fehle ihm auch eine Richtung zur Entwicklung seiner Persönlichkeit. Sein Wunsch nach einem normalen Leben, nach Familie und dem Gefühl von Zugehörigkeit scheiterte immer wieder an seiner „Weltangst“: Angst vor dem Versagen, vor dem Verstoßen-Werden, vor einer undefinierbaren Schuld. Angesichts des übermächtigen Vaters sowie der prekären Stellung als deutscher Jude in Prag, somit als Angehöriger gleich zweier Minderheiten, können diese Ängste kaum verwundern. Allerdings entwickelte Kafka aus ihnen die Notwendigkeit, in die Tiefen seines Inneren, letztlich des Unbewußten vorzudringen und genau daraus seine Literatur zu heben. Nur so konnte er der Selbstkritik entkommen.

Safranskis Ansatz, den Autor höchstselbst zu seinem Werk zu befragen, hätte Kafka möglicherweise für zweifelhaft gehalten: „Die Theorie, daß lebende Schriftsteller mit ihren Büchern einen lebendigen Zusammenhang haben“ hielt Kafka, wie er in einem späten Brief an Milena Jesenská bekennt, für irreführend. „Das wirkliche selbstständige Leben des Buches beginnt erst mit dem Tod des Mannes oder richtiger eine Zeitlang nach dem Tode, denn diese eifrigen Männer kämpfen noch ein Weilchen über ihren Tod hinaus für ihr Buch.“ Kafka indes wollte sich und seinem Werk diese Chance gar nicht erst geben, hatte er doch Max Brod um Vernichtung aller unveröffentlichten Aufzeichnungen und Tagebücher gebeten. Brod ist vielfach für seine Eigenmächtigkeit kritisiert worden, doch ohne ihn würde der Welt heute ein Autor von hoher intellektueller Wachheit und bildmächtiger Reflexion fehlen. Safranski wiederum zeigt mit seiner Monographie, daß Kafkas Schreiben sich nicht nur aus dessen Unbewußten schöpfte, sondern auch aus einem tief verinnerlichten Intellekt.

Kafka war sich jedoch sicher: „Mein Leben ist das Zögern vor der Geburt.“ Er starb am 3. Juni 1924. Seine Erzählungen und Romanfragmente aber sind auch hundert Jahre später noch höchst lebendig.

Foto: Autor Rüdiger Safranski im März dieses Jahres auf der Bühne bei der Lit.Cologne, dem internationalen Literaturfestival: Sein Sprachgebrauch ist niemals besserwisserisch

Rüdiger Safranski: Kafka. Um sein Leben schreiben. Hanser, Verlag, München 2024, gebunden, 256 Seiten, 26 Euro