© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 23/24 / 31. Mai 2024

Wenn das Unerklärliche hingenommen wird
Literatur: Vor hundert Jahren starb Franz Kafka. Er ist einer der wenigen Schriftsteller, die um so heller strahlen, je länger sie tot sind. Woran liegt das?
Dietmar Mehrens

Erstellt man einen Quotienten aus literarischer Langzeitwirkung und Lebensdauer, war er der wirkmächtigste deutschsprachige Autor des 20. Jahrhunderts. Legion sind die Schriftsteller deutscher und nichtdeutscher Sprache, die sich von ihm inspiriert fühlten. Von Filmemachern ganz zu schweigen. Wer einmal „Das Schloß“ gelesen hat, Franz Kafkas leider unvollendet gebliebenen und dennoch eindrücklichsten Roman, der weiß, warum. Das Buch vergißt man sein ganzes Leben lang nicht. Die verstörende Erzählung über ein fernes Schloß, das über einem Landstrich thront, alle menschlichen Geschicke beherrscht und sich dem, der sich ihm zu nähern versucht, auf geheimnisvolle Weise entzieht, ist einfach große, zeitlose, stilbildende Kunst. Wer würde nicht mitfühlen mit dem Landvermesser K., dem das Banalste nicht gelingen will: die Arbeit, für die er hinbestellt wurde in diese namenlose Gegend, einfach endlich zu erledigen. Wer würde nicht ebenso mitfühlen mit Josef K., dem Namensvetter des Landvermessers, der eines Morgens, „ohne daß er etwas Böses getan hätte“, verhaftet, aber doch in Freiheit gelassen wird und danach einen ganzen Roman lang versucht herauszufinden, was da schiefgelaufen ist.

Kafkas Romane sind Existenzdramen. Es geht immer ums Ganze. Und sie sind zu Worten geronnene Alpträume, in denen die Gesetze der Logik außer Kraft gesetzt, die Sicherheiten, die uns in unseren Alltagsverrichtungen Halt geben, ausradiert und die Menschen, die uns weiterhelfen könnten, zu Marionetten degradiert sind. Und niemand weiß, wer an ihren Fäden zieht. Ist es der verborgene Gott der jüdischen Thora, wie Interpreten des Kafkaschen Werks, allen voran sein Intimus Max Brod, immer wieder spekuliert haben? Sind es die Schergen der Bürokratie, mit der er als Beamter im Versicherungsgewerbe zeit seines Lebens zu tun hatte? Oder ist alles, ist Kafkas gesamtes literarisches Werk eine sich ständig in ihrer Gestalt wandelnde Metapher für den übermächtigen, oft als herrisch und emotional unterbelichtet beschriebenen Vater, der seine Jugend prägte und explizit sowohl in der Prosaskizze „Das Urteil“ (1916) als auch dem überlieferten „Brief an den Vater“ (1919) verewigt wurde? Auch die berühmte Erzählung „Die Verwandlung“ (1915), in der sich Hauptfigur Gregor Samsa beim Aufwachen eines Morgens in ein riesenhaftes Insekt verwandelt vorfindet, spiegelt vor allem innerfamiliäre Konflikte und einen eklatanten Mangel an Zuneigung und Zuwendung.

Für Kafka-Exegeten gilt: Alles ist richtig und doch nur ein Mosaikstück des Ganzen, das wohl kaum je vollständig erfaßt werden kann. Zu hermetisch durch eigene Sphären schwebend, zu rätselhaft chiffriert und folglich deutungsoffen ist das Werk des 1924 seiner schweren Tuberkulose erlegenen Schriftstellers, dessen letzte große Liebe zu der Ostjüdin Dora Diamant, dieses Drama im Drama eines Lebens, so bewegt, daß es in diesem Jahr, dem Kafka-Jahr, gleich zweimal erzählt wurde: in dem Kinofilm „Die Herrlichkeit des Lebens“ nach dem gleichnamigen Roman von Michael Kumpfmüller (JF 12/24) und im letzten Teil der von der Kritik bejubelten, jedoch beim breiten Publikum durchgefallenen sechsteiligen ARD-Serie „Kafka“ nach Drehbüchern von Daniel Kehlmann. Beide Filme liefen bereits vor dem eigentlichen Gedenkdatum, Kafkas hundertstem Sterbetag am 3. Juni, und machten deutlich, daß Deutschlands Kulturelite es mit dem Gedenken an den bescheidenen Böhmer Mann ernst meint. Vor allem für den künstlerisch ambitionierten und gleichwohl erhellenden Zugang zu Kafkas Leben und Werk und die Wechselwirkungen zwischen beidem, den der Sechsteiler von David Schalko bereitstellte, wurden weder Kosten noch Mühen gescheut.

Kafka kam am 3. Juli 1883 in Prag zur Welt. Er ist also gebürtiger Österreicher – denn damals existierte der österreichisch-ungarische Vielvölkerstaat noch – und beherrschte neben seiner deutschen Muttersprache auch Tschechisch. Sein Vater war ein jüdischer Kaufmann, der es, aus der Provinz in die böhmische Hauptstadt gekommen, durch harte Arbeit zu wirtschaftlichem Erfolg gebracht hatte. Seine Mutter entstammte einer gebildeten deutsch-jüdischen Familie. Franz war das älteste von sechs Kindern. Zwei Brüder verstarben früh. Nur die drei Schwestern Elli, Valli und Ottla erreichten das Erwachsenenalter. 

Die Erzählung „Josefine, die Sängerin“ (1924) handelt vom Kampf einer ambivalenten Heldin um Anerkennung innerhalb ihres „Volks der Mäuse“. Josefines zähes Ringen spiegelt Kafkas Lebensweg. 1889 kommt der begabte, aber introvertierte Junge auf die Deutsche Knabenschule am Fleischmarkt, ab 1893 besucht er das Altstädter Deutsche Gymnasium. Schon als Schüler beginnt er zu schreiben, ein Ventil für die Ängste, die ihm der dominante Vater einflößte. Überliefert ist davon nichts. Kafka neigte in einem an Selbstverleugnung grenzenden Defätismus dazu, seine literarischen Erzeugnisse für nicht erhaltenswert zu erachten, und jeder, der ihn kennt, kennt auch die Anekdote, wie Max Brod, der Verwalter seines Vermächtnisses, sich dem Verdikt des Todgeweihten widersetzte, sein gesamtes schriftstellerisches Werk zu vernichten – eine Weigerung mit beträchtlicher Wirkung auf die gesamte Literaturgeschichte.

Das im Sommer 1901 aufgenommene Germanistikstudium an der Prager Karl-Ferdinands-Universität hält er nicht durch und beugt sich schließlich dem Willen des Vaters, der ein Studium der Rechte für ertragreicher hält. Das Jurastudium führt er leidenschaftslos zu Ende. Seine wahre Liebe gilt weiterhin der Literatur, wie sich am Besuch von Salons in der böhmischen Metropole ablesen läßt. Um das Jahr 1905 entsteht das älteste erhaltene literarische Dokument des Dichters: „Beschreibung eines Kampfes“. 1906 wird er zum Dr. jur. promoviert. Während des Studiums bleibt der Student im Elternhaus wohnen. Es dauert bis zum Jahr des Kriegsausbruchs, bis er sich davon lösen kann. Auch das sagt einiges aus über den stillen Stilisten des Absurden, dessen schlichtes, klares, präzises Deutsch den labyrinthischen Schachtelsätzen eines Thomas Mann oder den expressionistischen Eskapaden eines Alfred Döblin diametral gegenübersteht.

Bekanntschaften mit Schriftstellern wie Gustav Meyrink oder Hugo Salus sowie bereits 1902 die Begegnung mit Max Brod fallen in diese Zeit. Mit Brod reiste er später durch Europa. Folge 1 der „Kafka“-Serie widmet sich dieser Lebensdekade, in der der „Prager Kreis“ sich bildete. Später kam Kafka, inzwischen literarisch arriviert, in Prag auch mit dem „rasenden Reporter“ Egon Erwin Kisch und mit Franz Werfel zusammen. 

Nach dem Studium ist der junge Mann bis September 1907, wie es die juristische Ausbildung vorsieht, Referendar beim Landgericht Prag, landet dann als fachjuristische Aushilfskraft bei der Prager Filiale der Triester Versicherungsgesellschaft Assicurazioni Generali, wird hier aber nicht recht glücklich. Ab Juli 1908 reüssiert er dann bei der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt des Königreiches Böhmen, wo er, zunächst wieder als Aushilfskraft, die Ansprüche Geschädigter nach Möglichkeit abschlägig bescheiden soll. Bis zu seiner Pensionierung 1922, als er bereits unheilbar erkrankt war, blieb Kafka hier tätig und stieg bis zum Obersekretär auf. Einen Eindruck davon, in welcher Stimmungslage er seinen Alltag verbrachte, vermittelt die Prosaskizze „Der Nachbar“ von 1917.

1908 erschienen ein paar erste Arbeiten des Dichters in der Münchner Literaturzeitschrift Hyperion, 1910 weitere fünf Prosastücke in der Prager Literaturzeitschrift Bohemia. 1912 veröffentlichte Rowohlt Kafkas erstes Buch „Betrachtung“, eine Sammlung von 18 kürzeren Texten, die zum Teil vorab in Zeitschriften gedruckt worden waren. Bereits 1907 waren die Fragment gebliebenen „Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande“ entstanden, eine literarische Vorwegnahme seines Lebensprojekts, in den Stand der Ehe zu treten, welches ebenfalls Fragment blieb. Dank der erhalten gebliebenen Briefwechsel und des Tagebuchs, das er seit 1910 führte, erfuhr die Nachwelt mehr über Kafkas Komplexe, Bindungsängste und Unsicherheiten, als ihm lieb gewesen sein dürfte. Im Sommer 1912 lernt er die Berliner Prokuristin Felice Bauer kennen. Er verlobt sich am 30. Mai 1914 mit ihr, schon im Juli folgt die Entlobung. Doch der Kontakt reißt nicht ab. Im Juli 1917 starten die beiden einen zweiten Versuch, diesmal hält die Verlobung immerhin fast ein halbes Jahr.

Nachdem sich mit einem Blutsturz im August 1917 die ersten schweren Symptome der tödlichen Schwindsucht bemerkbar gemacht haben, gönnt sich der Versicherungsjurist lange Auszeiten. Auf einer von ihnen lernt er 1919 in Schlesien die Handwerkerstochter Julie Wohryzek kennen und mutet ihr die nächste Ver- und Entlobungsgroteske zu. Seine nächste Liebschaft, die mit der Journalistin Milena Jesenská, Übersetzerin seiner Werke ins Tschechische, nimmt im Frühjahr 1920 ihren nicht minder unglücklich endenden Lauf. Erst die Beziehung zu Dora Diamant, während der Kafka bereits die meiste Zeit ans Bett gefesselt war (und also nicht weglaufen konnte), hielt bis an sein Lebensende – und endete gleichwohl ebenfalls tragisch. Der inzwischen Pensionierte hatte sie im Sommer 1923 im Ostseebad Müritz kennengelernt, wo er sich zur Kur aufhielt.

Wirkte der schon 1912 begonnene Roman „Der Verschollene“, den Max Brod 1927 unter dem Titel „Amerika“ herausbrachte, über den in den USA nach Arbeit suchenden Karl Roßmann noch unfertig und in der Handlungsführung unreif, weisen „Der Prozeß“ (posthum 1925 erschienen) und das ein Jahr später veröffentlichte „Schloß“ – wie die bereits zu Lebzeiten erschienene „Verwandlung“ – trotz fehlender Vollendung alle Markenzeichen auf, denen Kafka seinen epochalen Nachruhm hauptsächlich verdankt und die deutsche Sprache das Wort „kafkaesk“: Sie kreieren einen surrealen, gleichwohl realistisch gezeichneten und in sich stimmigen Kosmos des Absurden, in dem das Unerhörte und Unerklärliche wie eine banale Selbstverständlichkeit hingenommen wird, lassen ihre Helden durch diese Alptraum-Matrix tapern wie arglose Ameisen über einen gefliesten Küchenboden, und wehrlos wie diese werden sie am Ende zertreten. „Einen solchen Prozeß haben, heißt ihn schon verloren haben“, lautet ein prophetisches Diktum in „Der Prozeß“. Es ist – und das ist wohl das Bemerkenswerte am Werk des großer Pragers –, als hätte er’s von Anfang an geahnt, wie es mit ihm enden müsse.



Bild: Franz Kafka (1883–1924), Zeichnung von Johann Brandstetter, 1998: Epochaler Nachruhm

Foto: Franz Kafka etwa zur Zeit seiner Promotion im Sommer 1906 (l.) und vor dem Haus der Familie am Altstädter Ring in Prag (1922): Seine Romane sind Existenzdramen

Franz Kafka: Sämtliche Werke Mit einem Nachwort von Peter Höfle. Suhrkamp, Berlin 2008, broschiert, 1.463 Seiten, 30 Euro