© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 23/24 / 31. Mai 2024

Brexit-Ärger und kein Ende
Handelspolitik: Der EU-Austritt Großbritanniens belastet beide Seiten immer noch
Albrecht Rothacher




Als kranker Mann Europas hat Deutschland einen starken Mitbewerber bekommen: das Vereinigte Königreich. 2023 stagnierte die britische Wirtschaft mit einem Wachstum von nur 0,1 Prozent. Im ersten Quartal 2024 schrumpfte sie um 0,3 Prozent. Obwohl die Häuserpreise um acht Prozent gefallen sind, lag die Inflation im April bei drei Prozent. Im Oktober 2022 waren es 9,6 Prozent gewesen. Auch das Staatsversagen ähnelt dem deutschen. Nur ist hier das Trinkwasser in vielen britischen Großstädten durch defekte Leitungen verunreinigt, die Küsten sind von ungeklärten Fäkalien belastet.

In den Krankenhäusern des staatlichen Gesundheitssystems NHS wurden bis in die achtziger Jahre wissentlich verseuchte Blutkonserven verabreicht. Laut dem 2.500seitigem Bericht „Infected Blood Inquiry“ starben über 3.000 Patienten daran. Nach diesem „Katalog des Versagens“ versprach Premierminister Rishi Sunak am 20. Mai im Parlament den Hinterbliebenen und Zehntausenden Geschädigten eine milliardenschwere „umfassende Entschädigung“, obwohl er damals noch ein Schuljunge war.

Mühsame Zollabfertigungen und komplizierte Ursprungsregeln

Die islamistische Agitation läuft hemmungslos. Statt der Lokführer streiken die Grenzbeamten an den Flughäfen. Die konservative Regierung ist genauso unbeliebt wie die Ampel in Berlin.So steht Sunak als fünfter glückloser Tory nach David Cameron, Theresa May, Boris Johnson und Liz Truss am 4. Juli vor der sicheren Abwahl durch die Labour Party des Ex-Trotzkisten Keir Starmer. Und an der Misere ist nicht die EU schuld, zumindest nicht direkt. Im Januar 2020 war der Brexit formal erfolgt. Ein Jahr später endete die Teilnahme am Binnenmarkt. Alle Übergangszeiten liefen 2022 aus.

Nun gelten mühsame Zollabfertigungen, komplexe Veterinärbestimmungen und komplizierte Ursprungsregeln, damit „Made in Britain“ nicht aus China stammt. Bei Dover, Folkestone und Ash­ford mußten für die Kontrollen breite Parkstreifen für je 2.000 Lkws angelegt werden. Die meisten haben keine korrekten Zollpapiere dabei, es fehlt an ausgebildeten Zöllnern und Sachbearbeitern. Denn britische Firmen müssen nunmehr 215 Millionen zusätzliche Zollerklärungen ausfüllen, was jährlich sieben Milliarden Pfund kostet.

Zeitweise leere Supermarktregale waren ein Medienereignis, schlimmer sind um 8,4 Prozent eingebrochene britische Exporte nach Deutschland, wie eine aktuelle Brexit-Studie des Institut der deutschen Wirtschaft (IW) vorrechnet. Auch die deutschen Ausfuhren nach England sind rückläufig. Dabei sind deutsche Qualitätsgüter im Inselreich sehr begehrt. Immerhin blieb die City of London wichtigstes Finanzzentrum der Welt. Die wichtigste englische „Industrie“ wanderte nicht nach Amsterdam, Paris, Luxemburg oder ins verwahrloste Frankfurt ab. Von Niedrigsteuern angelockt und von EU-Vorschriften abgeschreckt, verlegten kontinentale Konzerne wie Unilever und Shell ihren Firmensitz nach London.

Doch Träume der Tory-Regierungen, als „Global Britain“ wieder eine imperiale Rolle im Commonwealth und eine Art prosperierendes Singapur vor dem überregulierten EU-Kontinent zu spielen, zerplatzten dennoch. Die USA blieben unter Donald Trump wie Joe Biden protektionistisch auf „America first“-Kurs. Freihandelsabkommen kamen nur mit Kanada, Neuseeland, Japan und Südkorea zustande. Die hat die EU aber auch. Gleichzeitig sind für die Briten automatisch alle 759 Abkommen erloschen, die die EU in 44 Jahren mit 168 Drittstaaten auch im Namen des Vereinigten Königreichs abgeschlossen hatte. Davon betrafen 295 den Handel, 69 die Fischerei, 65 den Transport, 49 den Zoll und 45 die Atomenergie.

Es ist ein Ding, einmal die Woche als Diplomat zur entsprechenden Ratsarbeitsgruppe nach Brüssel zu pilgern und in der ersten Reihe entspannt die EU-Verhandlungsstrategie mit Kritik und guten Ratschlägen zu versorgen und dem EU-Minister für seinen Außenministerrat alle drei Monate einen zweiseitigen Sprechzettel auf den Weg zu geben. Ein völlig anderes Ding ist, plötzlich selbst verhandeln zu müssen, wo es in London längst kein Ministerium für Außenhandel und keinerlei Spezialisten und Erfahrungswissen mehr gab. „Little England“ mit seinen 67,6 Millionen wenig kaufkräftigen Einwohnern spielt weder in Washington noch in Peking oder Delhi jene Rolle, die man sich erhofft hatte. Gleichzeitig ist der EU-Binnenmarkt von 515 auf 448 Millionen Konsumenten geschrumpft.

Kein Green-Deals und keine Milliarden-Schuldenprogramme

Die Alternative, die Handelsbeziehungen auf eine WTO-Basis der Meistbegünstigung zu stellen, stellte sich kaum, da die Welthandelsorganisation dank vereinter amerikanisch-chinesisch-russischer Sabotage nahezu bedeutungslos geworden ist. Vom Ende der Freizügigkeit für EU-Bürger waren vor allem die gut eine Million Osteuropäer in England betroffen, die nach und nach abwanderten. Jetzt fehlen dort Lkw-Fahrer, Erntehelfer, Pflegekräfte und der sprichwörtliche polnische Klempner. Es kommen aber weiterhin Illegale über die Kanalküste, die London über die nordirische Grenze in die EU abzuschieben sucht.

Nach vier Jahren Scheidungsdrama und vier Jahren Brexit, die der Volksabbstimmung vom 23. Juni 2016 folgten, wurden beide Seiten nicht glücklich. Den Briten gelang es nicht, mit den gesparten Nettobeiträgen wie von den Brexiteers versprochen ihr marodes staatliches Gesundheitssystem zu sanieren. Die EU verlor ihre zweitgrößte Wirtschaft, Armee und Marine – und schlimmer noch, eine verläßliche pragmatische Stimme der wirtschaftlichen Vernunft und der gesunden Skepsis im EU-Ministerrat, die uns den Ökowahn des Green-Deals und Milliarden-Schuldenprogramme der EU-Kommission unter Ursula von der Leyen erspart hätte.

Dazu fehlt der britische Investigativjournalismus, denn die Brüsseler Mißwirtschaft und die Skandale interessieren die britischen Medien und ihre Konsumenten kaum noch. Ursula von der Leyen hätte ihren Pfizer-Deal von 17 Milliarden Euro für 1,4 Milliarden Dosen mRNA-Seren, deren überzählige Bestände derzeit von nigerianischen Planierraupen entsorgt werden, mit den Briten keine zwei Monate überlebt. Und von den vertuschten Bestechungsgeldern und Geschenken aus Katar, Marokko & Co. ganz zu schweigen.

Aktuelle Studie „Brexit – Kein Vorbild für Deutschland“ (IW-Trends 2/24): www.iwkoeln.de/studien.htm