© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 23/24 / 31. Mai 2024

Kafkas Aktualität
Wie der Dichter das Totalitäre bürokratischer Allmacht zeitlos erschloß
Thorsten Hinz

Mit dem Adjektiv „kafkaesk“ ist der Name Franz Kafkas in vielen Sprachen in den alltäglichen Wortschatz eingegangen. Das Wort steht für die Erfahrung der Ohnmacht und der Fremdbestimmung, für das Gefühl, anonymen, unbezwing- und undurchschaubaren Mächten ausgeliefert zu sein. Kafkaeske Situationen spielen sich auf verschiedenen Ebenen ab, so auf der praktischen, der politischen, der metaphysischen Ebene.

„Kafkaesk!“, ruft der verzweifelte Bauherr, der den gerade fertiggestellten Carport auf seinem Grundstück abreißen mußte, weil er keine vollständige Baugenehmigung vorweisen konnte. Nicht aus eigenem Versäumnis, sondern weil einer der zahllosen Folgeanträge im Behörden-dschungel verschwunden gewesen war. Nun ist er wieder aufgetaucht und genehmigt worden, und der Rückbau darf auf eigene Kosten rückgängig gemacht werden. Der Ärmste sieht sich in den Fängen einer absurden, seelenlosen Mechanik, deren höchster Zweck darin besteht, sich die eigene Unabkömmlichkeit zu bestätigen. Und der Staat zieht über die Umsatzsteuer aus jeder Absurdität seinen Profit.

„Kafkaesk!“, schimpfte der Fahrgast in der Zeit des Lockdowns, dem der Zugschaffner mit einem Polizeieinsatz drohte, sollte er nicht umgehend seine FFP2-Maske aufsetzen. Umsonst der Hinweis, daß er sich ganz allein im Abteil befand und weder eine passive noch aktive Ansteckungsgefahr vorlag. Nichts da, die Regierungsanordnung galt für jedermann und überall und gestattete keine Ausnahme. In dem Fall durfte der Betroffene hinter der ehernen Bürokraten-Konsequenz eine politische Absicht vermuten: Der Bürger sollte diszipliniert und in den unbedingten Gehorsam eingeübt werden.

Franz Kafka hatte aus den Erfahrungen mit der siechen k.u.k. Bürokratie geschöpft und deren Potential konsequent zu Ende gedacht. Eine heitere Variante davon findet sich im „Braven Soldat Schwejk“: Dem böhmischen Halbidioten wird mit unabweisbarer Logik nachgewiesen, daß sein uferloses Geschwätz eine staatsgefährdende Handlung darstellt. In seinem Fall löst die Dramatik sich in Heiterkeit auf. Kafkas „Prozeß“ hingegen mit unerbitterlicher Düsternis: „Jemand mußte Josef K. verleumdet haben.“ Warum er verhaftet wurde, wessen er angeklagt ist und warum er am Ende getötet wird, bleibt ihm bis zum Schluß verborgen.

Kafkas Werk wird daher auch als Vorwegnahme des Totalitarismus gedeutet, der Terror, Ideologie und Bürokratie miteinander verbindet, und die Wächter, die K. festsetzen, als Vorboten der Gestapo und der Tscheka interpretiert. Im Dritten Reich wurde mit bürokratischer Akkuratesse erfaßt, ob und, wenn ja, wieviel jüdische Anteile ein jeder im Blut hatte; deren Höhe entschied über die gesellschaftliche und rechtliche Stellung und schließlich über Leben und Tod.

Kafkaest war auch der Große Terror unter Stalin. Niemand, selbst seine Exekutoren nicht, durfte sich vor ihm sicher fühlen, weil seine Logik und Absichten verborgen blieben. Menschen wurden verhaftet, verschwanden im Gulag oder sofort im Massengrab, weil sie der Partei und dem weisen Führer zu wenig Zuneigung bekundet hatten. Doch auch ein Zuviel erweckte Verdacht als der besonders raffinierte Versuch von Volksfeinden, ihre Gesinnung und Pläne zu tarnen. Die besondere Perfidie lag darin, daß niemand festlegte und keiner wußte, welches Maß an Zustimmung das richtige war. Das Geheimnis der Macht ließ sich nicht entschlüsseln. Alle lebten in ständiger Ungewißheit und Angst vor dem Zorn der Götter. Wie die Menschen der Antike konnten sie nur hoffen, sie durch Opfergaben günstig zu stimmen, zum Beispiel durch die Denunziation von Freunden und Familienmitgliedern.

1989 schien zumindest in Europa das Licht der Demokratie über die kafkaeske Finsternis der Diktatur gesiegt zu haben. Die Angelegenheiten der Res publica, so das Versprechen, würden künftig transparent und der Kontrolle, der Kritik und öffentlichen Diskussion zugänglich gemacht werden. Doch auch der Westen hatte seine kafkaesken Geheimbereiche, nur waren sie weniger auffällig. Nachdem er seinen dialektischen Widerpart verloren hat, tritt das Gemeinsame in den Vordergrund.

Die Gesellschaft ist einer umfassenden, dabei unproduktiven, ja zerstörerischen Dynamik ausgesetzt, die in alle Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens vordringt. Die „politische Korrektheit“ zerfällt in immer mehr und kleinteiligere Segmente. Die Antreiber sind Wahrnehmungs- und Kommunikationsblasen, die ihre Glaubenssätze gegen alle Einwände verpanzern. Wer ihre Wahrheit anzweifelt, wird mit dem Stigma des „Leugners“ versehen. Daber entsteht eine Kakophonie unvereinbarer Geltungsansprüche. Zur materiellen und mentalen Kriegstüchtigkeit beispielsweise, die gegenwärtig gefordert wird, passen weder die klimafreundliche Deindustrialisierung noch die Dekonstruktion der Energiesicherheit, noch der LGBT-Kult.

Diabolo, der große Verwirrer und Verleumder, scheint das Zepter zu schwingen. Er läßt das demokratische Versprechen des angstfreien Meinungsstreits im Orkus verwinden und gleichzeitig den Geheimdienst zu neuen, altbekannten, allzu berüchtigten Ehren kommen.

Über der Frage, welcher Plan hinter dem Chaos wohl steckt, verfällt der verzweifelte Bürger schnell auf den „tiefen Staat“, bei dem angeblich alle Fäden zusammenlaufen. Doch die öffentlichen Figuren, die als Vertreter der Macht hervortreten, wirken auch nur als untergebene, austauschbare Sprechpuppen.

Bei Kafka wird den Protagonisten der Zugang zum Schloß, zum Gericht, zum Gesetz, denen sie unterworfen sind, konsequent verweigert. Das läßt sich auch so deuten, daß es die eine zentrale Machtinstanz überhaupt nicht gibt. Statt einer hierarchischen Machtpyramide muß man sich ein Rhizom, ein netzartiges, transnationales Geflecht mit zahlreichen Nervenknoten unterschiedlicher Größe vorstellen, die miteinander kommunizieren. Es herrscht nicht der eine diabolische Wille, es ist viel schlimmer: Es ist die Schwarmidiotie der postreligiösen, modernen Massengesellschaften, die, mit dem Vokabular der Aufklärung auf den Lippen, den Rückfall in archaische Muster erzwingt. Deshalb bleibt das Kafkaeske das Gegenwärtige.