© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 23/24 / 31. Mai 2024

Das deutsche Dilemma
Pro-Israel oder internationales Recht: Berlin setzt sich bei der Anklage Netanjahus zwischen die Stühle
Bruno Bandulet

Der Pfingstmontag war ein schlechter Tag für Israel und ein unerfreulicher für die Bundesrepublik Deutschland: In Den Haag wurde ein Tabu gebrochen. Zum ersten Mal beantragte der Internationale Strafgerichtshof einen Haftbefehl gegen den Regierungschef eines westlichen Staates – gegen den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu.

Bis dahin hatte das Gericht Strafverfahren ausschließlich gegen afrikanische Politiker geführt und – mit der Ausnahme der Anklage gegen Wladimir Putin, den russischen Präsidenten – nur einmal gegen den Regierungschef einer Großmacht. 

Karim Khan, der zuständige Chefankläger aus dem Vereinigten Königreich, warf Premier Netanjahu und seinem Verteidigungsminister Yoav Gallant Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie Kriegsverbrechen vor. Zugleich ersuchte er das Gericht in den Niederlanden um Haftbefehle gegen drei Anführer der islamistischen Terrororganisation Hamas.

Ganz Israel war empört, und Netanjahu beschimpfte Khan als „einen der größten Antisemiten der Neuzeit“ – eine maßlose Reaktion, wenn man bedenkt, daß sich die israelische Regierung vor drei Jahren selbst für Khans Ernennung eingesetzt hatte. Die Bundesregierung, Protagonistin einer wertegeleiteten und unter Annalena Baerbock noch dazu feministischen Außenpolitik, ließ ihren Sprecher mitteilen, Berlin unterstütze den Strafgerichtshof und halte sich an dessen Entscheidungen. Was im Klartext bedeutete, daß Netanjahu bei Betreten deutschen Bodens verhaftet und in das Den Haager Gefängnis überstellt würde – ein Albtraum, der das Verhältnis zu Israel und auch zum amerikanischen Bündnispartner heillos zerrütten würde. 

Berlin im Dilemma zwischen Völkerrecht und Realpolitik. Einerseits spielt die Bundesregierung nach Japan den großzügigsten Finanzier des Gerichtshofs. Sie hat sich für ihn immer stark 

gemacht, sie war bei seiner Gründung 1998 maßgeblich beteiligt. Würde sie Anordnungen aus Den Haag ignorieren, wäre dessen Autorität beschädigt.

Andererseits gilt seit Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) die Sicherheit Israels als Teil der deutschen Staatsräson, eine schöne, aber nie definierte und juristisch bedeutungslose Erklärung, die für den jüdischen Staat finanziellen Wert hat, aber keinen militärischen und keinen existentiellen. 

Genaugenommen garantiert Israel, im Gegensatz zur Bundesrepublik ein Staat mit tiefer strategischer Kultur, seine Sicherheit selbst im Bündnis mit den USA. Diese sehen in dem bedrohten Land ihren Vorposten in einer höchst unsicheren geopolitischen Schlüsselregion. Sie werden Israel nicht fallenlassen.

Festzuhalten ist, daß es sich bei Khans Antrag vom 20. Mai nur um ein Vorverfahren handelt, daß das Gericht dem Antrag auf Haftbefehl erst noch stattgeben muß und daß bis zu einem rechtskräftigen Urteil die Unschuldsvermutung gilt. Außerdem würde Den Haag das Verfahren einstellen, sobald die israelische Justiz ernsthaft und nicht nur zum Schein die Ermittlungen an sich zieht. Denn es gilt der Grundsatz der Komplementarität: zuständig ist das internationale Gericht nur, wenn die nationalen Gerichte nicht tätig werden.

Laut Römischem Statut, der vertraglichen Grundlage von 1998, fallen Völkermord, Aggression, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen unter die Jurisdiktion des Strafgerichtshofs. 

Die zwei letzteren Straftatbestände werden sowohl gegen die israelischen Regierungsmitglieder als auch gegen die Hamas-Führer angeführt. (Anders als der ebenfalls in Den Haag ansässige Internationale Gerichtshof kann der Strafgerichtshof nur Individuen, nicht aber Staaten auf die Anklagebank setzen.) Der Moslem Khan und seine Leute haben gründlich ermittelt, waren in Israel und in Palästina vor Ort, haben Zeugen und Opfer befragt und viel Beweismaterial sichergestellt. Schlampige Arbeit kann man ihnen nicht vorwerfen. Die Verbrechen der Hamas sind offenkundig, während die Vorwürfe gegen die zwei Israelis in einem Prozeß durchaus Ansatzpunkte für die Verteidigung böten. Schwer rufschädigend sind sie allemal.

Der Chefankläger legt großen Wert darauf, nur der Gerechtigkeit zu dienen. Erwägungen der politischen Opportunität weist er von sich. Offenbar mit Blick auf die USA und Drohungen von seiten amerikanischer Senatoren verlangte er, daß alle Versuche, das Gericht zu behindern und einzuschüchtern, „sofort“ aufhören. Er weiß gleichwohl, wie heikel sein Fall ist. Nicht umsonst hat er, um sich abzusichern, acht hochkarätige Experten sein Beweismaterial prüfen lassen, darunter einen Holocaust-Überlebenden, der auch schon die israelische und die amerikanische Regierung beraten hat.

In einer idealen Welt würden sich auch die Großmächte dem Völkerrecht unterwerfen. Die Realität sieht anders aus. Die USA, Rußland, China, Indien und auch Israel, um nur einige Beispiele zu nennen, haben das Römische Statut nicht ratifiziert. 2002 hat sich der US-Präsident George W. Bush vom Kongreß sogar das Recht einräumen lassen, vom Den Haager Gericht inhaftierte US-Staatsbürger mit militärischen Mitteln zu befreien. 

Anderes Problem: Den Haag ist nur dann zuständig, wenn entweder die Opfer oder die Täter (oder beide) Bürger eines Staates sind, der dem Vertrag beigetreten ist.  Schon der Haftbefehl gegen Putin krankte daran, daß weder Rußland noch die Ukraine Vertragsparteien waren und sind. Kiew hatte lediglich die Zuständigkeit der Richter für einen bestimmten Zeitraum anerkannt. Um gegen Israelis ermitteln zu können, mußte das Gericht von der Staatlichkeit Palästinas ausgehen. Die aber ist fiktiv, weil die Palästinenserbehörde zwar das Römische Statut unterschrieben hat, weil ihr aber die üblichen Attribute eines Staates fehlen.

Es bleibt der Eindruck, daß die Regierung in Berlin mit dem Spagat zwischen Völkerrecht und Realpolitik überfordert ist. Sie sollte es anderen überlassen, den Israelis zu sagen, wie sie ihren Krieg zu führen haben. Nennenswerten Einfluß auf Netanjahu hat die geschwätzige deutsche Außenministerin ohnehin nicht. Und der Regierungssprecher hätte die Frage, ob der Ministerpräsident in Deutschland mit seiner Verhaftung rechnen muß, als rein hypothetisch abtun können. Dazu kommen wird es so oder so mit Sicherheit nicht.


Dr. Bruno Bandulet war Chef vom Dienst bei der Welt und gibt den „Deutschland- Brief“ heraus.