© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 22/24 / 24. Mai 2024

Von deutscher Geschichte nicht mehr im Singular sprechen
Das bunte Wir der Mitlebenden

Gegenstand der Zeitgeschichte sei die Epoche der „Mitlebenden“ und ihre wissenschaftliche Behandlung. So umriß der aus dem US-Exil zurückgekehrte Hans Rothfels 1953 das Untersuchungsfeld einer neuen historischen Subdisziplin, die sich zunächst der Aufarbeitung der NS-Herrschaft widmen sollte. Trotz der Gegenwartsnähe blieb ihre Forschung aber auf Volk und Nation ausgerichtet. Das änderte sich für Julia Angster (Mannheim) drastisch erst mit der Jahrtausendwende. Hatte die Erfahrung der Wiedervereinigung ein letztes Mal den „nationalen Blick“ deutscher Zeithistoriker geschärft, sei als Folge der in den USA importierten „Globalgeschichte“ sowohl der nationale als auch der kontinental-europäische „Denkrahmen“ gesprengt worden (Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 2/2024). Gleichzeitig stellte sich mit der „europäischen Integration deutscher Staatlichkeit“ und der Verwandlung der ethnisch-kulturell relativ homogenen deutschen Nation in eine „postmigrantische Gesellschaft“ die Frage, wer das „Wir“ der „Mitlebenden“ ist, wenn ein Viertel der Bevölkerung eine „Zuwanderungsgeschichte“ hat, die auf ihre Verankerung in fremden Kulturen verweist. Und wie sinnvoll sei es angesichts dieser bunten Pluralität und Ambivalenz, noch länger von einer deutschen Geschichte im Singular zu sprechen? (ob) 

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