© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 22/24 / 24. Mai 2024

75. Geburtstag des Grundgesetzes
Ein nachhaltiges Provisorium
Ulrich Vosgerau

Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, das am 23. Mai 1949 in Kraft trat, war ursprünglich als Provisorium gedacht. Dies erklärt die Bezeichnung „Grundgesetz“ statt „Verfassung“; die Aufrichtung einer „Verfassung“ im westdeutschen Teilstaat wäre aus der Sicht der Väter und Mütter des Grundgesetzes undenkbar gewesen, da man dies als eine Art Anerkennung der Teilung Deutschlands angesehen hätte. Es ging 1949 aber gerade nicht darum, auf westdeutschem Boden, den man damals spöttisch „Trizonesien“ nannte, einen neuen Staat zu begründen.

Bis heute geht ja im Rheinland die Legende, die Vertreter der westlichen Besatzungsmächte in Bonn hätten das Karnevalslied „Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien“ tatsächlich für die neue Nationalhymne gehalten. Vielmehr sollte der bereits seit 1867, also seit der Umwandlung des Norddeutschen Bundes von einem Staatenbund in einen Bundesstaat bestehende eine und einheitliche Nationalstaat des deutschen Volkes fortgeschrieben werden, was eben bis auf weiteres nur im westdeutschen Teilstaat möglich war.

Die süddeutschen Länder traten diesem 1871 ebenfalls bei, wodurch der Bund zum Deutschen Reich wurde. „Von dem Willen beseelt, seine nationale und staatliche Einheit zu wahren und als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden in der Welt zu dienen, hat das Deutsche Volk in den Bundesländern [...], um dem staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine neue Ordnung zu geben, kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz [...] beschlossen. Es hat auch für jene Deutschen gehandelt, denen mitzuwirken versagt war“, lautete damals die originäre Präambel des Grundgesetzes, die nach der Wiedervereinigung dann abgeändert wurde.

Nach der Wiederherstellung der deutschen Einheit sollte gemäß Artikel 146 des Grundgesetzes eine neue Verfassung in Kraft treten, die „von dem deutschen Volke in freier Entscheidung“ beschlossen werden sollte. Diese stellte man sich damals noch nicht als reine Wiedervereinigung mit der „Ostzone“, sondern im Sinne des Satzes „dreigeteilt niemals“ vor. Auch der Artikel 146 des Grundgesetzes gilt bis heute in seit 1990 abgeänderter Form fort und ermöglicht beziehungsweise legalisiert prinzipiell eine Verfassungsneuschaffung.

Die von Vätern und Müttern des Grundgesetzes vorhergesehene Wiedervereinigung dauerte dann sehr viel länger als ursprünglich angenommen, nämlich fast einundvierzigeinhalb Jahre, und es kam anders, als zunächst gedacht. Die Oder-Neiße-Linie war, was sich ja bereits im Rahmen des Ostverträge Brandts angedeutet hatte, im Sinne des künftigen friedlichen Zusammenlebens Deutschlands mit den europäischen Nachbarn als endgültige Ostgrenze anzuerkennen – die zeitweilig wohl im Raum stehende Rückgabe Königsbergs an Deutschland als Exklave soll sogar explizit abgelehnt worden sein.

Die Wiedervereinigung der Bundesrepublik mit der DDR erfolgte nicht gemäß Artikel 146, sondern als „Beitritt zum Bundesgebiet“ gemäß Artikel 23. Letzteres war insbesondere dem Willen der DDR-Bürger geschuldet, die – anders als ihre Bürgerrechtler, die die friedliche Revolution erst angestoßen hatten – keine neuen Verfassungsexperimente und auch keinen Sozialismus „mit menschlichem Antlitz“, sondern die westdeutsche Wirtschafts- und Verfassungsordnung wollten.

Das Grundgesetz war und ist eine ganz und gar deutsche Verfassung, die der Parlamentarische Rat aus der spezifisch deutschen Verfassungsüberlieferung geschöpft hatte, deren Höhepunkt bis dato die dann nie in Kraft getretene Paulskirchen-Verfassung von 1848/49 gewesen war. Die Weimarer Reichsverfassung krankte, verkürzt gesagt, daran, daß man versuchte, einen im Ersten Weltkrieg einigermaßen zentralistisch gewordenen Machtstaat von oben herunter zu demokratisieren, wodurch der Reichspräsident in die unglückliche Rolle eines Ersatzkaisers und notstandsexekutiven Reichsverwesers kam, anstatt wie die Paulskirche einen bürgerlichen Staat von unten her aufzubauen.

Dies gilt auch und insbesondere vom ausgeprägten Föderalismus des Grundgesetzes – daß dieser der jungen Bundesrepublik von den US-Amerikanern nur oktroyiert worden sei, um sie zu schwächen, ist eine Legende, die seitens der KPD in die Welt gesetzt wurde – und der in ihm vorgesehenen starken Stellung des Bundesverfassungsgerichts, die aus der Paulskirchenverfassung übernommen wurde und nicht etwa eine Adaption der Rolle des „Supreme Court“ war. Dasselbe gilt von der zentralen Bedeutung technisch formulierter Grundrechte. Diese wurden auch aus dem Grund so nüchtern formuliert, weil sie als geltendes Recht und nicht etwa als politisches Verfassungsziel verstanden werden sollten. 

Ein so modernes wie demokratisches Merkmal des Grundgesetzes, das speziell aus der Weimarer Verfassungslehre herzuleiten ist, ist die Unterscheidung zwischen Verfassung und Verfassungsgesetz – zwischen der verfassungsgebenden Gewalt und dem nur verfassungsändernden Gesetzgeber. Diese ist auch als „Dezisionismus“ bekannt. Sie ergibt sich aus der Präambel, aus dem Artikel 146 und aus der in Artikel 79 Absatz 3 stehenden Selbstbestimmungsgarantie. Vielen ist diese bis heute vielfach, aber kaum zutreffend, unter dem Namen „Ewigkeitsgarantie“ geläufig.

Diese Fundamentalunterscheidung wurde und wird von vermeintlichen Modernisierungsbewegungen bereits seit den 1960er Jahren immer wieder in Abrede gestellt, zunächst begründet mit der (vermeintlichen) methodischen Angleichung der Verfassungsauslegung an angelsächsische Vorbilder, später dann, nach der Wiederentdeckung der Kelsenschen Methodenlehre, im Geiste eines gesetzespositivistischen Normativismus zwecks Ermöglichung einer Revolution von oben unter Hintanstellung des Selbstbestimmungsrechts des deutschen Volkes zwecks Errichtung einer postdemokratischen unionalen Überverfassung.

Die Negation der grundgesetzlichen, dezisionistischen Unterscheidung läuft dabei immer auf die Behauptung hinaus, im Verfassungsstaat gäbe es keinen Souverän, was liberal klingen mag, aber im Ergebnis stets die Verfassung einem Elitenkonsens in der wirklichen oder auch nur vermeintlichen „postnationalen Konstellation“ ausliefert.

Unter dem Grundgesetz gibt es jedoch einen Souverän: das deutsche Volk, das als Träger des völkerrechtlichen Selbstbestimmungsrechts verfassungsgebende Gewalt nicht nur war, sondern auch ist und bleibt! Und allein dieser Umstand ermöglichte es dem Bundesverfassungsgericht, in seinen auf einfache Verfassungsbeschwerden wahlberechtigter Bürger zurückgehenden Urteilen im Maastricht- wie im Lissabon-Verfahren (1993 bzw. 2009), dem unkontrollierten, demokratisch nicht legitimierten Machtzuwachs des freilich im Grundgesetz bereits angelegten Überbaus der Europäischen Union zeitweilig gewisse Grenzen zu setzen.

Richtig ist allerdings auch, daß die der Einführung des Euro zeitlich versetzt, aber mit einer gewissen Notwendigkeit folgende, weitgehende Vergemeinschaftung der Staatsschulden im unionalen Raum den seinerzeitigen Versuch der Rettung des Selbstbestimmungsrechts des deutschen Volkes durch das Bundesverfassungsgericht vor der unionalen, postdemokratischen Überbau-Verfassung wieder zunichte machte. Das Bundesverfassungsgericht ist der – zwar klar unionsrechts-, wie auch verfassungswidrigen – europäischen Schuldenvergemeinschaftung nicht mehr effektiv entgegengetreten.

Hier deutet sich bereits das Problem der Grenzen jeder Wirksamkeit geschriebenen und selbst höchst- und verfassungsgerichtlich beschirmten Verfassungsrechts an: gegen einen Elitenkonsens, der auf mit der Zeit völlig veränderten Mentalitäten zugrunde liegt, ist auch der Verfassungstext machtlos. Jede Kultur hat ihre eigene Mathematik, behauptete Oswald Spengler bewußt provokant. Aber offenbar gilt auch und jedenfalls: Jede Generation hat ihre eigene Verfassung – ohne daß der Text dafür geändert werden müßte.

Dies erkennt selbst der einfache Zeitungsleser etwa an dem Umstand, daß das Bundesverfassungsgericht noch 1993 unter Berufung auf die Menschenwürdegarantie an der Spitze des Grundrechtskatalogs des Grundgesetzes eine formelle Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs kategorisch ausschloß, wenn dieser auch unter Umständen als strafrechtlich entschuldigt oder straffrei gelten mochte und, anders als in der früheren Rechtsprechung während der 1970er Jahre, von Verfassungs wegen nicht unbedingt auch mit Gefängnisstrafe bedroht werden mußte.

Wohingegen heute in der Sache längst ein Recht auf Abtreibung propagiert wird, ohne daß dies als „verfassungsfeindlich“ gelten würde. Die insofern funktionslos gewordene Menschenwürdegarantie dient statt dessen heute dazu, ein vermeintlich nicht effektiv zu beschränkendes Zugangsrecht von Asylbewerben in das deutsche Sozialsystem zu begründen.

Im Jahr 2024 wird nicht nur das Grundgesetz 75 Jahre alt; es ist auch das 60. Jubiläum des 1964 zum ersten Mal in einem Vortrag ausgesprochenen (und erst 1967 in der Festschrift für Ernst Forsthoff verschriftlichten) Böckenförde-Diktums, nach dem der freiheitliche Verfassungsstaat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren könne.

Was sind nun diese Voraussetzungen? Es geht hier zum einen um eine gewisse Mindesthomogenität der Bevölkerung in kulturellen, religiösen und mentalitätsmäßigen Fragen. Diese stellt sich nach aller bisherigen Erfahrung am leichtesten infolge einer ähnlichen ethnokulturellen Herkunft, also idealerweise im Rahmen einer Abstammungsgemeinschaft ein. Hier ist dann auch die Sprach- und Wertegemeinschaft kein ambitioniertes Erziehungsziel, sondern eine dem Staat vorausliegende Selbstverständlichkeit. Dies schon deswegen, weil demokratische Verfahrensweisen nur funktionieren, solange sich die Überstimmten dessenungeachtet weiter als vorübergehend unterlegener Teil einer unverbrüchlich bestehenden politischen Gemeinschaft verstehen.

Auch müssen die Trennung von Kirche und Staat, von Moral und Recht, von Religion und Politik sowie die Staatlichkeit überhaupt, der Umstand, daß staatliches Recht über den Interessen des Familienverbandes steht, daß jeder einer Familie zwar angehört, aber dem Staat dient und gehorcht, im westlichen Verfassungsstaat kulturell verwurzelt und moralische Selbstverständlichkeit sein. Dies hat übrigens Ernst-Wolfgang Böckenförde, der (in wirkungsmäßiger Hinsicht sehr geschickt) lange davon abgesehen hatte, seine epochale Sentenz näher zu erläutern, in einem Vortrag bei der Münchner Carl-Friedrich-von-Siemens-Stiftung 2007 bestätigt, indem er darauf hinwies, die Bundesrepublik werde die weitere Zuwanderung von Muslimen stark beschränken müssen, um ihren demokratischen Charakter zu wahren.

Indessen läßt sich die heute längst zu diagnostizierende Krise des demokratischen Verfassungsstaates in Deutschland nicht ausschließlich auf die Einwanderung zurückführen; umgekehrt scheint eher auch die Hinnahme einer weithin ungeregelten, soweit erkennbar von keinem staatlichen Interesse gerechtfertigten Einwanderung Ausdruck tieferliegender Dekadenz- und Zerfallsprozesse im Demos zu sein. Der freiheitliche Staat braucht Bürger, die Freiheit in Gestalt von Grundrechten als Abwehrrechte gegen den Staat fordern statt eines bedingungslosen Grundeinkommens; und die sich die Einführung eines Erziehungsstaats für alle, ergänzt durch einen Maßnahmestaat für Kritiker, selbst dann nicht gefallen lassen, wenn dies scheinbar nur andere betrifft.


Dr. Ulrich Vosgerau, Jahrgang 1974, Privatdozent, lehrte Rechtswissenschaften und Rechtsphilosophie an verschiedenen Universitäten. Als Verfahrensbevollmächtigter hat er die AfD bereits mehrfach vor dem Bundesverfassungsgericht vertreten.