© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 22/24 / 24. Mai 2024

Apostel des gesunden Menschenverstandes
Literatur: Eine hingebungsvolle Gratulation zum 150. Geburtstag des englischen Schriftstellers G. K. Chesterton
Matthias Matussek

Gilbert K. Chesterton, mein journalistischer Hausgott, der am 29. Mai 1874 zur Welt kam und dessen 150. Geburtstag wir nun feiern, war nach den Worten des marxistischen Philosophen Ernst Bloch „einer der gescheitesten Männer, die je gelebt haben“. Bloch vergaß, hinzuzufügen: und bei weitestem der witzigste, zumindest, was das 20. Jahrhundert angeht. 

Seine kurz vor dem Tode 1936 diktierte Autobiographie beginnt er, wie auch anders, mit einer Pointe. Er erinnert sich, daß er in der St. George’s Church getauft wurde, gleich neben einem gigantischen Wasserturm, was ihm logisch vorkam, denn: „Es bedurfte der gesamten Wasserkraft West-Londons, um mich in einen Christen zu verwandeln.“ 

Nun, obschon in einer anglikanischen Kirche getauft, begann für ihn das Abenteuer seines eigenen Christentums doch erst mit der römisch-katholischen Kirche, in die er 1921 aufgenommen wurde, und zwar eine, die sich der katholischen Orthodoxie verpflichtet fühlt und nicht angekränkelt ist von den schon damals verbreiteten Modernismen. In der Una Sancta und ihrer weither kommenden Ordnung sah er sein Heil und das seiner Zeit. Sie stand, so hätte es Carl Schmitt gesagt, der weltlichen Ordnung mit ihrem eigenen Recht gegenüber.

In ihrer Vernunft sah er das Bollwerk gegen einen Modernismus, der letztlich zu zeitgebundenen Ersatzreligionen, ja, zur Selbstvergottung des Menschen führe. Unsere Kirchen sollten ihn in jeder Predigt zitieren. In seiner überaus populären Essay-Sammlung „Ketzer“ (1905) hatte er bereits die Lanze eingelegt gegen die Atheisten seiner Zeit wie H. G. Wells oder Friedrich Nietzsche oder kommunistische Menschheitsbeglücker wie den Freundfeind George Bernard Shaw. Drei Jahre später ließ er seine „Orthodoxie“ folgen, die den eigenen Weg zum Glauben schildert: „Ich suchte nach einer Häresie, die mir paßt, und als ich ihr den letzten Schliff gab, entdeckte ich, daß es die Orthodoxie war.“

Polemischer Witz gegen Zeitgenossen 

Gleich im ersten Kapitel nimmt er sich den Unglauben seiner Tage vor, der aktueller ist als je: Er besteht im Glauben an sich selbst, also an den Menschen, der sich für Gott hält und die Schöpfung in die eigenen Hände nimmt, also jene Spinner, die heute das Weltklima bestimmen wollen oder zusätzlich zu Mann und Frau weitere 60 Geschlechter erfinden. Diese Leute, sagt er, sitzen alle in Irrenhäusern.

Im berühmten vierten Kapitel über die „Ethik des Feenreiches“ führt er die Wahrheit und die Schönheit der Märchen ins Feld, die ihm seine Amme vorgelesen hatte und ihn das Staunen lehrten. Das Staunen über die Schönheit der Schöpfung. Darüber daß der Schnee nicht schwarz, sondern weiß ist und die Blätter grün sind. Jedes Kind erlebt die Welt als Wunder, je früher, desto stärker.

Staunen ist, wie der Glauben, eine Sache von Kindern: „Ein siebenjähriges Kind ist begeistert, wenn man ihm erzählt, daß Fritzchen eine Tür aufmachte und einen Drachen erblickte. Ein dreijähriges Kind dagegen ist schon begeistert, wenn man ihm erzählt, Fritzchen habe eine Tür aufgemacht. Kinder mögen romantische Geschichten; Kleinkinder aber mögen realistische Geschichten – weil sie ihnen romantisch erscheinen.“ Und dann mit einer typischen Volte des Literaturkritikers: „Tatsächlich dürfte, wie ich vermute, einzig und allein ein Baby aufgelegt sein, sich einen modernen realistischen Roman anzuhören, ohne vor Langeweile zu sterben. Das beweist, daß selbst Märchen nur einen Nachklang des überschwenglichen Interesses und Staunens bilden, das uns an der Schwelle unserer pränatalen Existenz erfaßte.“

Diese unnachahmliche Mischung aus polemischem Witz gegen Zeitgenossen und dem Tiefenrauschen seiner Gläubigkeit durchzieht sein ganzes Werk, und das ist gewaltig. Er verfaßte rund 4.000 Essays, 80 Bücher, 200 Kurzgeschichten, dazu Romane und Theaterstücke und eine Unmenge von Gedichten. Und er zeichnete. Ursprünglich studierte er an einer Kunstakademie, wollte Architekt werden, beeinflußt von seinem Vater, einem Liebhaber gotischer Kathedralen, Hobbykünstler, Immobilienmakler. Seine erste Veröffentlichung war die Kritik über ein Kunstbuch.

In der Schule bemühte er sich, nicht aufzufallen, was ihm nicht gelang. Er war ein glänzender Schüler, übersprang Klassen, gründete eine Schülerzeitschrift und die „Junior Debating Society“, und dann wurde auch noch ein Gedicht von ihm prämiert – Fehlschlag auf der ganzen Linie bei seinem Versuch, wie alle anderen zu sein!

Aber er hatte ausgesprochen egalitäre Instinkte. Rühmend hebt er den Direktor seines College hervor, der von einer Dame der upper class gefragt wurde, ob denn ihr wertvoller Sprößling in der von ihr leicht naserümpfend betrachteten Schülerschar gut aufgehoben sei. „Machen Sie sich keine Gedanken, Madam“, sagt der. „Solange er sich nichts zuschulden kommen läßt und Sie das Schulgeld pünktlich überweisen, gibt es für uns keinen Grund, ihn zu feuern.“

Der einfache Mann hatte es Chesterton angetan, er zog ihn der „chattering class“, also den blasierten Zirkeln vor und meinte, der common man habe mehr Verstand im kleinen Finger als all diejenigen, die in ihren Leitartikeln dem Lauf der Welt vorschreiben wollen, welche Richtung sie einzuschlagen habe. „Solange der Witz Mutterwitz ist, kann er Kapriolen schlagen wie er will.“ Man nannte Chesterton den „Apostel des gesunden Menschenverstandes“, eine nicht ganz treffende Übersetzung für common sense, aber eine bessere ist bisher nicht gefunden.

Auch sein Father Brown, den die zahlreichen Filme und TV-Serien irrtümlich als „Pater Brown“ einführen – er war kein Ordensmitglied, also kein Pater, sondern „Father“, ein einfacher katholischer Priester – ,verdankt seine enorme Popularität seiner Schlichtheit. Während die gleichzeitig mit ihm zu Anfang des 20. Jahrhunderts auf Verbrecherjagd gehenden Meisterdetektive, Conan Doyles „Sherlock Holmes“ und Agatha Christies „Hercule Poirot“ durch exzeptionelle Logik beziehungsweise Eitelkeit hervorstechen, ist Father Brown völlig unscheinbar. 

Bis auf den schwarzen Habit, der ihn als Mann der Kirche ausweist. Eine Durchschnittsfigur. Aber er ist auf seine Weise erfolgreich – er löst seine Fälle mit seinem großen Herz, wachen Verstand und jener Menschenkenntnis, die man sich nur als Beichtvater erwirbt.

Sein Blick galt dem beseelten Menschen

Chestertons Bemühen, nicht aufzufallen, wurde ihm durch seinen Schöpfer durchkreuzt, er wuchs fast zwei Meter in die Höhe. An seinem imposanten Leibesumfang von 250 Pfund indes trug er seinen eigenen Anteil bei. Er war ein Genießer und fröhlicher Zecher in den Pubs der Fleet Street, dem Zeitungsviertel, und liebte es zu singen und seine Clarihews zu reimen, kleine Spottgedichte aus dem Stegreif ähnlich den Limericks. 

Aber er vergaß nie, über seinem Glas Whisky ein Kreuz zu schlagen. Gegen die schon damals aufblühende Mode des Vegetarismus und seine Propheten schrieb er den satirischen Roman „Das fliegende Wirtshaus“, in dem ein islamischer Prediger auf die Schippe genommen wird. 

Wenn die „Orthodoxie“ die eine Buchstütze seiner unzähligen Werke bildet, wäre wohl „Der unsterbliche Mensch“ die andere. Dieses Buch nimmt sich die Evolutionstheorie Darwins vor, die ihm das Wunder des Menschen nicht erklären kann: den beseelenden Funken. Er nimmt uns mit hinab in jene prähistorischen Höhlen, in denen mit kühnem artistischen Schwung Rentiere und Mammuts auf die Wände gemalt waren. Irgend etwas muß dort geschehen sein, womöglich eine religiöse Zeremonie, doch eines steht für Chesterton fest: Ein Mensch malte aus welchen Gründen auch immer ein Rentier. „Und man müßte“, so fuhr er ironisch fort, „wohl sehr viel tiefer graben, um zu entdecken, daß ein Rentier einen Menschen malte.“

Der Leser sei an dieser Stelle auch auf die vielen wunderbaren Biographien aus Chestertons Feder hingewiesen, über Geoffrey Chaucer, William Makepeace Thackerey, die wunderbare über Charles Dickens, besonders die über den heiligen Franziskus und Thomas von Aquin.

Die über Franziskus schildert sein Auftauchen nach der langen Nacht des Frühmittelalters so: „Während noch Zwielicht herrschte, da erschien plötzlich eine schweigende Gestalt auf einem kleinen Hügel über der Stadt, die sich dunkel gegen die schwindende Finsternis abhob. Denn es war das Ende einer langen und harten Nacht, einer Nacht des Wachens, in der die Sterne nicht ausgeblieben waren. Sie stand mit erhobenen Händen, wie in so vielen Statuen und Bildern, und um sie war es wie ein Losbrechen von Vogelgesang, und hinter ihr war das Anbrechen des Tages.“

Über seine Thomas-Biographie urteilte der Mittelalter-Forscher Étienne Henri Gilson: „Nur ein Genie kann solch eine Leistung vollbringen.“

Aber Chesterton schrieb auch eine Biographie über seinen erbitterten kommunistischen Debattengegner George Bernard Shaw mit einem so großen Tiefenverständnis und voller Sympathie, wie es heutzutage bei ideologischen Gegnern wohl kaum noch möglich wäre. Als er am 14. Juni 1936 starb, schrieb Shaw ergriffen: „Die Welt ist nicht dankbar genug für Gilbert Keith Chesterton. Ich bin traurig, daß er von uns gegangen ist.“

Es wird Zeit, daß er wiederentdeckt wird.

Foto: Gilbert Keith Chesterton (1874–1936): Eine tiefe Gläubigkeit durchzieht sein gewaltiges Werk