© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 22/24 / 24. Mai 2024

Ein Jubilar zum Herumschubsen
75 Jahre Grundgesetz: Die Regierung läßt den Geburtstag ostentativ feiern und versucht damit die Angriffe totalitärer Gesellschaftstransformatoren zu vertuschen, die sie selbst in Teilen gutheißt
Dietmar Mehrens

Unsere Verfassung heißt Grundgesetz“ und „Ein Grundgesetz zum Feiern“, so lauten die Slogans, mit denen derzeit auf großen Werbeflächen in deutschen Innenstädten für das Grundgesetz geworben wird, das am 23. Mai 75 Jahre alt wird. Die von Marketingexperten ersonnenen Werbesprüche ergänzen kongenial das aktuelle Demokratie-„Framing“, mit dem die Regierungsparteien und die größte Oppositionspartei sich als standhafte Verteidiger einer rechtsstaatlichen Ordnung inszenieren, die ihnen freilich nur recht und billig ist, solange aus ihrer Nomenklatura deren exklusive Exekutivorgane hervorgehen. Deshalb spielt der eigentliche Chef der Demokratie, nämlich das Volk, mal wieder keine Rolle, wird lieber geschmäht als gefeiert, wird beschimpft statt umjubelt, soll nicht mehr sein als der Grüßaugust der Demokratie.

Bei der deutschen Sozialdemokratie, die übrigens nächstes Jahr ebenfalls ein Jubiläum feiern kann (1875 erfolgte die Vereinigung mit dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein), muß das nicht überraschen und beim grünen Bündnispartner, der bekanntlich Anfang der Achtziger von Jungkommunisten gekapert wurde, auch nicht. Als Linke waren sie immer schon, wie es die Debatte um Enteignungen von Wohnraum beweist, anti-bourgeoise Kollektivierer, denen Grundrechte wenig bedeuten, solange sie Eigentum und Herrschaftsdiskurse dem Zugriff des staatlichen Vermögens- und Gesinnungsverwalters entziehen. 

Die Enteignungsphantasien eines Kevin Kühnert fielen wohl nicht zufällig in das Jahr der beginnenden Freitagsdemos. Greta Thunberg und Luisa Neubauer rannten von Anfang an bei Linken und Grünen offene Türen ein, weil sie den Klimawandel als Problem des kapitalistischen Gesellschaftssystems definieren, das sie in der jetzigen Form ablehnen. Der Konflikt zwischen Wirtschaftswachstum zwecks Wohlstandsmehrung auf der einen Seite und den ökologischen und anthropologischen Grenzen des Wachstums andererseits erfordert radikale Lösungsansätze. Demokratie und Grundrechte stehen da tendenziell eher im Weg.

Zugeben würde das im Jubiläumsjahr 2024 zwar keiner, aber wer sich bis in die klein gedruckten Schriftsätze etwa des sogenannten Deutschen Ethikrats vorkämpft, einer Art Abnickverein des herrschenden Parteienklüngels für grundgesetzfeindliche Regierungsprojekte wie Impfpflicht oder „3G-Regel“ zu Corona-Zeiten, der stößt auf ein verstörendes Demokratieverständnis. In seiner Stellungnahme zur Klimagerechtigkeit meldet der Ethikrat Zweifel an, ob „die gegenwärtigen Formen der Demokratie bereits die besten Lösungen zum Umgang mit dem Klimawandel bieten“. An welche zukünftigen Formen von Demokratie, die diesem Manko abhelfen können, mag hier gedacht sein? Ist da einigen in Wahrheit gar nicht so zum Feiern zumute und die Demokratie also doch keine so famose Sache?

Wenig Jubel über Freiheitsrechte des Bürgers auch bei Janosch Dahmen, dem gesundheitspolitischen Sprecher der Partei Bündnis 90/Die Grünen, zumindest damals, am 5. November 2021, als er auf n-tv.de forderte: „Die Polizei soll 2G-Kontaktbeschränkungen auch zu Hause überprüfen!“ Ab Artikel 13 GG, der die Unverletzlichkeit der Wohnung regelt, dürfte die Feierlaune des Grünen-Politikers demnach abrauschen in die düsteren Gewölbe des Polizeistaats. Vielleicht auch schon früher, denkt man an den von den Grünen forcierten Vorstoß zur Abschaffung des Rechts auf Leben Ungeborener (Artikel 2) oder zur Neudefinition von Protestkundgebungen als „Gehsteigbelästigung“, obwohl grundgesetzlich geschützt durch Artikel 5 (Meinungsfreiheit) und Artikel 8 (Versammlungsfreiheit).

Viele haben gedacht, daß der Sozialismus sich erledigt hat, als 1989 die Mauer fiel. Doch das sozialistische Modell hat an Attraktivität gewonnen, seit die Marktwirtschaft sich von einflußreichen linken Zirkeln als Raubtierkapitalismus und als Klimakiller brandmarken läßt und Menschen als arm gelten, die jeder Slumbewohner in Lagos für privilegiert halten würde. 

Während bürgerliche Kreise aufgrund der historischen Fehlentwicklungen in allen kommunistischen Staaten Sozialismus und Demokratie für Widersprüche halten, betrachtet das linke Lager beide Begriffe als zwei Seiten derselben Medaille. Das Scheitern der Pariser Kommune, die Februarrevolution im zaristischen Rußland, der Triumph der Weimarer Republik über die von Kommunisten ersehnte Räterepublik – wer ein bißchen was von Geschichte versteht, der weiß, auf welcher vorläufigen Stufe im Prozeß der umfassenden Transformation von Staat und Gesellschaft in einen sozialistischen Sonnenscheinstaat unser Grundgesetz für jeden überzeugten Linken steht. Es ist, genau wie das System, das es legitimiert, in seiner jetzigen Form ein inakzeptables bourgeoises Provisorium, das man hinter sich lassen muß.

Perfektes Beispiel für die Diskrepanz zwischen bürgerlich-liberalem Rechtsstaat und marxistischem Idealstaat ist das sogenannte Menschenrecht auf Wohnraum, mit dem linke Kreise etwas einfordern, was es in Deutschland gar nicht gibt. Das Grundgesetz kennt ein solches Recht nicht, es überläßt die Wohnraumfrage dem freien Markt. Im Kommunismus dagegen hat der Staat das Monopol auf alles und versorgt das Volk mit allem, auch mit Wohnraum. So ist es heute noch in Nordkorea.

Wie der bürgerliche Realo-Grüne über sozialistische Utopien denkt, das läßt sich ganz gut an dessen Hauspostille, dem Spiegel, ablesen, für den Nils Minkmar in der Debatte um Kühnerts Enteignungphantasien in etwa so argumentierte: Warum nicht einfach das Gute aus den Ideen des Sozialismus herauspicken und dadurch unsere Demokratie sozial gerechter und ökologisch verantwortungsvoller machen? Damit würde man ja ihre bürgerliche Verfassung, in deren Rahmen sich diese Reformen bewegen sollen, nicht antasten.

Dieses Argument setzt jedoch ein hohes Maß an Achtung und Wertschätzung für das Grundgesetz voraus. Die Frage ist, ob man die tatsächlich voraussetzen kann oder ob sie nicht nur simuliert sind. Wer mit wachen Augen durchs Leben schreitet, wird allein bei der Beobachtung der Beißreflexe etablierter politischer Kräfte im Umgang mit der AfD als legitimer und grundgesetzlich (durch Artikel 21) geschützter Oppositionspartei zu einem eindeutigen Urteil kommen. Aber es gibt auch jenseits der Debatte um die AfD verräterische Spuren.

Erstens: die merkwürdige Abstoßungsreaktion, die die Insignien unseres demokratischen Rechtsstaates bei den Anhängern linker Parteien und Bewegungen fast reflexhaft auslösen. Wenn in Berlin rechte Demonstranten die Nationalhymne anstimmen, versuchen linke Krakeeler sie niederzubrüllen oder werfen einen Ghettoblaster mit Hiphop-Musik an, anstatt das Verbindende und Einheitsstiftende in dem bundesdeutschen Symbol, einem Symbol aller Deutschen, zu sehen und mitzusingen. Und längst hat in linken Kreisen die Regenbogenflagge die Funktion der Identifikationsstiftung übernommen. Ihnen ist Schwarz-Rot-Gold nicht bunt genug. Einen mit Blut besudelten Bundesadler gibt es als Aufkleber. Aber nicht nur mit den Symbolen unserer Demokratie fremdeln sie.

Es gibt – zweitens – auch eine klare inhaltliche Distanzierung. Ein Fallbeispiel: Im „Writers’ Room“, einem von der Hamburger Kulturbehörde geförderten gemeinnützigen Verein für Autoren, der von linken Kulturschaffenden geprägt ist, erfolgte im Sommer 2018 eine Satzungsänderung mit dem Ziel, sich selbst ein klareres politisches Profil zu geben und so Autoren mit fragwürdigen Gesinnungen vom Vereinsleben fernzuhalten. Der Vorschlag, einfach den Wortlaut des Diskriminierungsverbots des Grundgesetzes in die Vereinssatzung zu übernehmen, fand dabei keine Mehrheit. Die Mehrheit der Vereinsmitglieder bestand auf Formulierungen, die den direkten verbalen Anschluß an linke Weltdeutungsmuster suchten und auf diese Weise Andersdenkende ausgrenzen konnten. Ein Vorstandsmitglied, beschäftigt mit einem Übersetzungsprojekt zu den Werken Rosa Luxemburgs, erklärte das Grundgesetz für defizitär. Es sei eben schon sehr alt und müsse an die veränderten gesellschaftlichen Gegebenheiten angepaßt werden. Hier zeigt sich in nuce, was Linke am Grundgesetz fundamental stört: Es ist nicht links genug.

Drittens: Der für die bürgerlich-liberale Demokratie essentielle Pluralismus beißt bei Linken auf Granit, weil sie notorisch intolerant sind, wie bereits Gregor Gysi 2015 in einem Spiegel-Interview unumwunden zugab. Wer „von Geburt an“ davon ausgehe, „immer im Recht zu sein“, so Gysi wörtlich, tut sich naturgemäß schwer mit der Meinungsfreiheit. Besser kann man die Systemstörung, die die linke Diskurshegemonie der bundesdeutschen und eigentlich jeder westlichen Demokratie beigebracht hat, kaum auf den Punkt bringen.

Diese Intoleranz hat Folgen. Sie ist die Ursache für den allgegenwärtigen Versuch, Menschen, die im gesellschaftlichen Diskurs konservative Antworten ins Spiel bringen, als reaktionär abzustempeln und damit auszuschließen. Wie zur Illustration dieses Befundes betonten anläßlich der Verleihung der Deutschen Filmpreise Anfang des Monats in Berlin Samira El Ouassil und Lars Jessen, in deren Händen die künstlerische Leitung der diesjährigen Gala lag, „daß die Filmbranche gerade und besonders gegen reaktionäre und antidemokratische Kräfte zusammenhält“. Damit stellten sie die gesamte Veranstaltung stellvertretend für den bundesdeutschen Kulturbetrieb in den Dienst eines Demokratiebegriffs, der keinen Pluralismus duldet, sondern in klassisch sozialistischer Denkart lediglich zu unterscheiden weiß zwischen akklamierten linken Demokratieanhängern und zu supprimierenden rechten Antidemokraten. 

Das also ist das Rahmenprogramm für einen runden Geburtstag: Unser Grundgesetz wird 75. Es ist ein kritisches Alter, in dem sich der Jubilar oft herumschubsen lassen muß, weil ihm die Kraft fehlt, sich dagegen zu wehren, ein kritisches Alter auch für politische Systeme: Die Sowjetunion geriet im siebzigsten Jahr ihres Bestehens in den tödlichen Perestroika-Strudel. Er riß das kommunistische Regime in den Abgrund, aus dem es keine Wiederkehr gab. Kritische Geister wie der französische Soziologe Emmanuel Todd („Traurige Moderne“) sehen in Europa die ersten Wehen eines gesellschaftlichen Umbruchs, der in eine postdemokratische Epoche führen könnte. Das Grundgesetz ist in die Jahre gekommen. Es paßt nicht mehr in die Zeit. Wenig spricht dafür, daß das zum neuen, ökosozialistischen Dogma erhobene Postulat einer universellen Transformation nicht auch die Umformung des westlichen Demokratiemodells mit einschließt. Je lauter unser Grundgesetz von denen „gefeiert“ wird, die den Souverän der Demokratie geringschätzen, desto wachsamer sollte er sein.