© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 22/24 / 24. Mai 2024

„Das ist einfach nur widerlich“
Frühsexualisierung: Hinter einem Einzelfall aus Hannover steht ein Netzwerk, das kleine Kinder zu sexuellen Wesen machen will / Erster Teil der Reportage
Hinrich Rohbohm

Holger Wilms ist entsetzt. „Das ist eine Schweinerei ohnegleichen. Ich verstehe nicht, warum das alles ohne Konsequenzen bleibt.“ Der 34jährige ist Vater einer inzwischen fünf Jahre alten Tochter. Noch immer ist er fassungslos über das, was sich vor gut einem Jahr in einem Hannoveraner Kindergarten der Arbeiterwohlfahrt (AWO) abgespielt hatte.

„Als ich mit Freunden und Nachbarn darüber gesprochen hatte, haben die zu mir gesagt: ‚Du spinnst!‘ Sie konnten einfach nicht glauben, daß sich so etwas in einer Kita mitten in Deutschland abspielen könnte.“ Doch das, was man kaum glauben mag, hatte sich tatsächlich zugetragen, wäre um ein Haar in dem Kindergarten, den Wilms’ Tochter damals besuchte, in die Tat umgesetzt worden.

Die Scham ist groß bei diesem Thema. Und Wilms ist vorsichtig geworden. „Öffentlich dazu äußern will sich von uns Eltern keiner mehr so recht. Vielen ist das peinlich und unangenehm, und man erfährt eher Einschüchterung und Gegenwind als Unterstützung“, sagt er. Auch ihm ist es unangenehm. Nur unter Zusicherung von Anonymität willigt er ein, darüber zu sprechen. Seine persönlichen Angaben hat die JF aus diesem Grund geändert. „Ich möchte einfach meine Tochter schützen und nicht unseren wirklichen Namen in diesem Zusammenhang in der Zeitung lesen“, bittet er um Verständnis.

Konfrontiert wird er mit dem Thema erstmals im Frühjahr des Jahres 2023. Als die Leitung der Kindertagesstätte Freytagstraße in Hannover den Eltern mitteilt, daß sie die Einrichtung eines „Masturbationszimmers für Kinder“ plane, berichtet der Vater. „Der Begriff selbst ist so natürlich nicht gefallen, er ist eigentlich eine Erfindung der Medien“, sagt Wilms. „Aber er bringt die Dinge plastisch auf den Punkt, den die Kita-Leitung hinter harmloser klingenden Wörter verpackt hatte.“ 

„Wir sollten eingeschüchtert werden“

Tatsächlich nennt es die Kita-Leitung „Ruheraum, Rückzusgsraum oder Körpererkundungsraum“, so etwa in einem Brief an die Eltern: „Kinder haben ein Interesse am Erkunden des eigenen Körpers oder auch von anderen Kindern“, heißt es dort. In der Vergangenheit hätten Kinder ihre Neugier an „Doktorspielen“ im Gebüsch oder in Waschräumen ausgelebt, begründet die Kita-Leitung den Plan zur Errichtung eines speziellen „Ruheraumes.“

Sie listet in einem Zehn-Punkte-Regelkatalog Rahmen und Ablauf auf. „Jedes Kind entscheidet selber, ob und mit wem es körperliche und sexuelle Spiele spielen will“, heißt es da etwa. Und weiter: „Alle Kinder, vor allem im Kindergartenalter, kennen die Orte der Einrichtung, wo Nacktheit und Körpererkundungen stattfinden können.“ Unter Punkt drei heißt es in diesem „Regelwerk“: „Mädchen und Jungen streicheln und untersuchen sich nur so viel, wie es für sie selbst und andere Kinder angenehm ist.“ Der Punkt legt weiter fest: „Kein Kind steckt einem anderen etwas in die Körperöffnungen oder leckt am Körper eines anderen Kindes.“ In Klammern listet der Verfasser „Po, Vulva, Mund, Nase, Ohr“ auf.

„Das ist einfach nur widerlich“, schimpft Holger Wilms. „Sagen wir es doch mal ganz deutlich: Das ist nichts anderes als ein Sexraum für kleine Kinder. Wer denkt sich so einen kranken Mist aus?“ Noch heute macht ihn das Schreiben wütend. Und nicht nur ihm sei es so ergangen. Einige Eltern hätten beim Kita-Leiter nachgefragt, was es damit auf sich habe, erinnert er sich. Es handele sich „um eine Anordnung des Kultusministeriums“, habe die Leitung zu beschwichtigen versucht. Viele Eltern hätten sich widerstrebend mit der Antwort zufriedengegeben. Nur einige wenige seien skeptisch geblieben, hätten „da weiter nachgehakt.“ Mit Erfolg. Denn eine derartige Anordnung des niedersächsischen Kultusministeriums hatte es so nie gegeben. Wilms ist überzeugt: „Wir sollten eingeschüchtert werden.“

Der Vater recherchiert weiter: „Es stellte sich heraus, daß die Kita-Leitung da auf eigene Faust gehandelt hatte. Weder Kultusministerium noch die AWO als Träger der Kita hatten irgendwelche Anordnungen erlassen.“ 

Das niedersächsische Kultusministerium wird  im Sommer 2023 auf den Fall aufmerksam und schaltet das Jugendamt ein. Das Amt erklärt, „das pädagogische Konzept der Körpererkundungsräume in den AWO-Kitas (kann) so keinen Bestand haben“. Hier sei das „Kindeswohl in Gefahr“. Das pädagogische Konzept der AWO-Kitas in Hannover sowie das Kinderschutzkonzept müsse „mit externer Beratung sofort überarbeitet“ werden.

Doch handelte die Kita-Leitung wirklich nur auf eigene Faust? Die AWO-Leitung distanziert sich von dem Vorhaben, will erst zehn Tage, nachdem das Schreiben an die Eltern verschickt wurde, von dem Brief erfahren haben.

Es habe „Mißverständnisse in der Kommunikation“ gegeben, erklärt man uns. Der Kita-Leiter habe einen Alleingang gestartet, der Elternbrief sei von ihm aus einem „internen Entwurfspapier“ heraus entwickelt worden, ohne sich dabei mit seiner Dienst- und Fachaufsicht abgestimmt zu haben. Diese Antwort legt den Schluß nahe, daß es noch weitere „Ruheraum“-Autoren geben muß. Daß das Ganze eine tiefere Vorgeschichte hat.

Was ist das für ein Entwurfspapier und wer hat wiederum diesen Entwurf geschrieben? Wer steckt hinter der betreffenden Kita-Leitung? Die JF hat sich auf Spurensuche begeben. Dabei stellt sich heraus: Von einem Einzelfall und einem Alleingang eines Erziehers kann keine Rede sein. Der Vorfall in Hannover ist vielmehr die Spitze eines Eisbergs, der weit in die Abgründe deutscher Sexualpädagogik der 68er-Bewegung und ihrer Protagonisten reicht. Doch dazu später mehr.

Nach JF-Recherchen handelt es sich bei dem betreffenden Kita-Leiter um Carsten L. (der vollständige Name ist der Redaktion bekannt). Im Jahr 2021 arbeitet er als Leiter der AWO-Kindertagesstätte Hiltrud-Grote-Weg in der Innenstadt Hannovers. Einige Eltern erinnern sich dort an L., beschreiben ihn als „ausgesprochen engagierten Erzieher, der immer viel mit den Kleinen unternommen“ habe. Auch bei Zeitungen und Fernsehsendern ist der Kita-Leiter damals immer wieder gerngesehener Gesprächspartner.

Gemeinsam mit anderen Erziehern aus AWO-Kindergärten zieht er vor den niedersächsischen Landtag, demonstriert für eine bessere Ausstattung der Kitas. „Er hatte sich richtig in den Job reingehängt, hatte den Kids immer neue Spielsachen besorgt, sich um Sponsoren gekümmert“, erinnert sich eine Mutter. Unter anderem sei es sein Verdienst gewesen, daß die Kinder eine kleine Holzhütte als neues Spielgerät bekamen, in die sie sich zurückziehen konnten.

Kita-Leiter wechselt in eine Problem-Kita

Später wechselt er innerhalb der AWO zum Kindergarten Freytagstraße, in der er im Mai vorigen Jahres Rückzugsräume der anderen Art plant. Neben den ins Gerede gekommenen „Masturbationszimmern“ ereignet sich im gleichen Monat noch ein weiterer Vorfall, der Carsten L. selbst zum Rückzug zwingt. Auf einem Betriebsausflug soll er unter Alkoholeinfluß eine Kollegin sexuell belästigt haben.

Und schon weit vor den Planungen eines Raumes für „Doktorspiele“ soll ein ehemaliger Erzieher in der Kita Freytagstraße Kinder sexuell mißbraucht haben. Der Prozeß gegen den damals 28jährigen wurde vorläufig eingestellt. Eine wichtige Zeugin befand sich im Ausland, konnte nicht befragt werden.

Für Carsten L. wird das Eis dünner. Eventuellen personellen Konsequenzen gegen ihn kommt er zuvor, kündigt Ende Mai 2023 von sich aus bei der AWO. Um, wie JF-Recherchen ergeben, bereits vier Wochen später erneut die Leitung einer Kita zu übernehmen. Diesmal weit weg von Hannover, in der Kindertagesstätte Bienenschloß in Hohen Neuendorf in der Nähe von Berlin.

Da der volle Name von L. im Zusammenhang mit den Masturbationsräumen in Hannover der Öffentlichkeit bisher nicht bekannt ist, dürfte man in Hohen Neuendorf keine Kenntnis darüber haben, wer da am 1. Juli 2023 die Kita-Leitung übernommen hatte. Offenbar hat sich L. eine für ihn maßgeschneiderte Kita herausgesucht. Der Hintergrund: Bei der Kita Bienenschloß handelt es sich um die ehemalige Kindertagesstätte Kids und Co., die in der Region aufgrund von akutem Personalmangel und hohen Krankenständen als Problem-Kita gilt. Über personelle Verstärkungen jeglicher Art dürfte man gerade hier besonders froh gewesen sein, der ideale Standort also für Erzieher mit angekratztem Lebenslauf.

Ist es einfach nur die Geschichte eines Einzelfalls, der sich mit dem Engagement für „Doktorspiele“-Rückzugsräume vergaloppiert und sich darüber hinaus mal einen Ausrutscher erlaubt hat? Die als „Rückzugsräume“ verharmlosten Zimmer sind kein Einzelfall. Sie sind auch nicht Idee einer einzigen Person, sondern Teil einer ausgeklügelten Ideologie von Frühsexualisierung, deren Ursprünge bis in die Zeit der 68er-Revolte hineinreichen.

Carsten L. hatte sich den „Masturbationsraum“ keinesfalls selbst erdacht. Er fußt vielmehr auf einer internen Arbeitshilfe der Kita-Fachberatung, der entsprechende Textbausteine zu Regeln für Körpererkundungsspiele von Kindern enthält. Textbausteine, die aus Fachmagazinen des Vereins Pro Familia stammen, der mit seinen mehr als 180 Sexualberatungsstellen in Deutschland bestens bei Schulen, Städten und Landkreisen vernetzt ist und sich zahlreicher öffentlicher Bezuschussungen erfreuen darf.

In der Vergangenheit war der Verein immer wieder in die Kritik geraten. Recherchen des Tagesspiegels hatten 2013 ergeben, daß zwischen 1980 und 1998 im Pro Familia-Magazin mehrere Artikel von Soziologen und Psychologen erschienen waren, die bei sexuellen Kontakten mit Kindern für Straffreiheit eintraten. Darunter auch ein damaliges Vorstandsmitglied von Pro Familia Bonn.

In einer späteren Auseinandersetzung mit den Forschungen des umstrittenen und später als pädophilen Straftäter überführten Sexualwissenschaftlers Helmut Kentler gestand sich der Verein ein, nicht eindeutig genug gegen Pädosexualität als sexuellem Mißbrauch Position bezogen zu haben.

Was ihn heute aber offenbar nicht von zweifelhaften Handlungsanweisungen für Erzieher in Kindertagesstätten abhält. Etwa in Form einer Dokumentation eines Fachtags zum Thema Kindliche Sexualität, den der Verein am 28. März 2020 in Waiblingen, Baden-Württemberg, abgehalten hatte. Titelthema: „Puppenmama und Hand in der Hose“. Als Cover abgebildet: ein kleiner Junge, der grinsend seine linke Hand in die Hose Richtung Genitalbereich steckt. Ein Fachtag für Erzieher. Unterstützt unter anderem durch den örtlichen Landkreis Rems-Murr, die Stadt Waiblingen und die von Robert Bosch junior ins Leben gerufene Heidehof-Stiftung.

Die ehemalige baden-württembergische Arbeits-und Sozialministerin Katrin Altpeter (SPD) hielt ein Grußwort zu der Fachtagung. Unter den Referenten war auch die Diplom-Pädagogin Christa Wanzeck-Sielert, Ehefrau des Sexualwissenschaftlers Uwe Sielert, einem Zögling des besagten Helmut Kentler.

Interessant: Die Körpererfahrungsregeln finden sich fast wortwörtlich auf zwei Internetseiten, die sich an Pädagogen richten, wieder. Zum einen auf erzieherin-ausbildung.de und zum anderen bei „Element-I“ , die von der Firma „Konzept-e für Bildung und Betreuung gGmbH“ verantwortet wird. Verfaßt von der Autorin Katja Behres, die sich dabei auf die Waiblinger Fachdokumentation sowie die Literatur des Soziologen Jörg Maywald und dessen 2013 verfaßtes Buch „Sexualpädagogik in der Kita“ stützt.

Handlungsanweisungen für Erzieher, die nicht nur in Hannover, sondern an zahlreichen weiteren Kita-Standorten in Deutschland offenbar Schule machen. 


Lesen Sie mehr über weitere Fälle solcher „Rückzugsräume“ in anderen Kindertagesstätten in Teil zwei dieser Reportage in der kommenden Ausgabe der JUNGEN FREIHEIT.



Foto: Broschüre des Vereins Pro Familia zu einer Veranstaltung, die Fortbildungen für pädagogische Kräfte bieten will: Gefördert vom Kreis Rems-Murr und der Stadt Waiblingen unterbreitet der Verein für Sexualberatung und Sexualpädagogik, die Idee von „Ruheräumen“ in Kitas. Diese sollen der „sexuellen Neugier“ der Kinder dienen