Die Europawahl am 9. Juni wird in Deutschland abermals zum Schaulaufen der „Kleinen“. 45 Parteien hatten ihre Kandidatur angekündigt, 35 schafften es am Ende auf den Stimmzettel. Weil es anders als bei Landtags- und Bundestagswahlen in Deutschland für die Europawahl derzeit keine Sperrklausel gibt, reichten vor fünf Jahren schon bundesweit 240.000 Stimmen (0,7 Prozent), um einen der 96 deutschen Abgeordnetensitze zu erringen. 2014 waren es sogar noch weniger. So sind derzeit 14 deutsche Parteien im Straßburger Parlament vertreten (zählt man CDU und CSU als Union zusammen); im Bundestag sind es sieben.
Die europa-euphorische Liste Volt, die Piraten, die ÖDP sowie die Familienpartei werden sich wohl strecken müssen, um ihr eines jeweiliges Mandat zu verteidigen. Die Satireformation „Die Partei“ erreichte vor fünf Jahren mit 2,4 Prozent zwei Mandate, wobei einer der beiden MdEP im Streit mit Parteipromi und Ex-Titanic-Chefredakteur Martin Sonneborn von der Fahne ging. „Die Partei“ ist wie immer eine große Unbekannte. Viele, vor allem jüngere Menschen, wählen sie wohl eher aus Spaß. Wobei Sonneborn mittlerweile durchaus als ernsthafter Brüssel-Kritiker politisch oder publizistisch zu reüssieren versucht und zum Beispiel für eine Verkleinerung der EU plädiert. Mit der Schriftstellerin Sibylle Berg (siehe Seite 3) folgt eine nicht minder prominente Kandidatin dem bereits in zwei Legislaturperioden erfahrenen Sonneborn. Daß „Die Partei“ noch weitere 209 (!) Mandatsbewerber aufführt, dürfte eher ein Scherz sein.
Inhaltlich überzeugt sind dagegen die Wähler der Tierschutzpartei, die mit fast 1,5 Prozent dem zweiten Mandat recht nahe kam. Daß sie es diesmal erringt, ist nicht ausgeschlossen. Im Zentrum des Programms steht das Wohl der Tiere und eine andere Agrarpolitik. Gegründet im Jahr 1993, entstand die „Partei Mensch Umwelt Tierschutz“ aus einer Tierschutzbewegung.
„Man muß sich doppelt und dreifach anstrengen“
Bereits mit zwei Mandaten sind die Freien Wähler (FW) vertreten. Durch die Diskussion um ihren Bundesvorsitzenden und stellvertretenden bayerischen Ministerpräsidenten Hubert Aiwanger im Vorfeld der Landtagswahl im Freistaat sowie den Einzug in den Landtag von Rheinland-Pfalz hat die Bürgerbewegung in den vergangenen Jahren im öffentlichen Bewußtsein massiv zugelegt. Spitzenkandidatin ist die bayerische Landesbäuerin Christine Singer, auf Platz 2 folgt ihr Engin Eroglu, der bereits im EU-Parlament sitzt. Auch der frühere Landrat des Eifelkreises und jetzige Fraktionsvorsitzende im Mainzer Landtag, Joachim Streit, tritt für die FW an, ebenso der im Zuge der Bauernproteste bekannt gewordene niedersächsische Landwirt Anthony Lee – wenn auch auf dem nicht gerade aussichtsreichen Platz 8. Der Vorteil der Freien Wähler ist die Tatsache, daß sie in einigen westdeutschen Flächenländern relativ gut verankert sind. Zudem könnte die Partei von Protestwählern profitieren, die von den Querelen um die Alternative für Deutschland (AfD) abgeschreckt sind.
Als Alternative zur AfD positioniert sich eindeutig auch das neu gegründete Bündnis Deutschland, das mit Lars Patrick Berg als Spitzenkandidat antritt. Er hat seit 2019 ein Mandat in Brüssel/ und Straßburg und war bis zu seinem Austritt 2021 Mitglied der AfD. Durch die Fusion mit der Bremer Wählervereinigung „Bürger in Wut“ ist die Partei bereits in einem Landesparlament in Fraktionsstärke vertreten, doch insgesamt fehlt es ihr bundesweit noch an Schlagkraft. „Wir sind eine neue und kleine Partei“, räumt Berg ein, „da muß man sich doppelt und dreifach anstrengen.“ Er hofft, daß seine Partei mit ihm als Spitzenkandidat bis zu zwei Sitze in Straßburg holen wird. „Es gibt ein gewisses konservatives Momentum in Deutschland“, ist Berg überzeugt. Immerhin mußte er im EU-Parlament auch nach seinem Austritt aus der AfD kein Einzelkämpfer-Dasein fristen, sondern war Mitglied der konservativen EKR-Fraktion.
Aus den Corona-Protesten entwickelten sich die Parteien „Die Basis“ und „Aktion Bürger für Gerechtigkeit“ (ABG). Beide treten also das erste Mal für ein Mandat in Brüssel an. Während die ABG lediglich über rund 150 Mitglieder verfügt und am 9. Juni absolut chancenlos sein dürfte, gehören nach eigenen Angaben der Partei mehr als 20.000 Menschen der Basis an. Sie fordert die Einführung von Volksentscheiden und kontinuierlichen Abstimmungen über alle politischen Ebenen hinweg. Seit 2021 trat „Die Basis“ bei der Bundestagswahl und Landtagswahlen an. Bisher zog sie in kein Parlament ein – erreichte aber mehrmals über ein Prozent der Stimmen. Sie ist bei dieser Europawahl ein sicherer Kandidat für ein Mandat.
Auf ein politisches Comeback hofft auch die NPD-Nachfolgepartei „Die Heimat“, die mit ihrem politischen Urgestein Udo Voigt ins Rennen geht, der von 2014 bis 2019 eine Legislaturperiode im EU-Parlament saß. Trotz Widerständen von seiten der Regierung sei es der Partei gelungen, den Wahlantritt zu realisieren, gibt sich die Rechtsaußen-Truppe selbstbewußt. Selbst die Abschaffung der Parteienfinanzierung durch ein sogenanntes „kleines Verbotsverfahren“ werde daran nichts ändern. „Die Heimat wird nach den Europawahlen die einzige Partei im EU-Parlament sein, die ohne Steuergelder für die Interessen der Bürger kämpft“, teilte die Partei mit. Auf Platz 9 kandidiert der „nationale Liedermacher“ Frank Rennicke, der sich 2009 und 2010 für die NPD als Bundespräsident bewarb. Die Aussichten für „Die Heimat“ sind nicht gerade günstig. Ihr Vorläufer NPD kam 2019 auf 0,3 Prozent der Stimmen.
Abermals um christlich-konservative Wähler wirbt das „Bündnis C“ (Christen für Deutschland), das 2015 aus der Fusion christlicher Parteien entstand. Es setzt sich unter anderem für die Förderung der traditionellen Familie sowie den Schutz der Umwelt ein. Schwangerschaftsabbrüche lehnt das „Bündnis C“ ab. Eindeutig antireligiös positioniert sich dagegen die „Partei der Humanisten“ (PdH), nicht zu verwechseln mit der ebenfalls antretenden „Partei des Fortschritts“ (PdF) oder der libertären „Partei der Vernunft“ (PdV).
Gegen Gas und Kohle oder gegen Fleischverzehr
Daß es zuletzt verstärkt kleineren Parteien gelungen ist, ein Mandat in Straßburg zu ergattern, hat offenkundig einige Nachahmer auf den Plan gebrufen. So kandidieren unter anderem die Splitter-Gruppen „Tierschutz hier“, die „Klimaliste“, die „Menschliche Welt“ (für spirituelle Lebensführung, Friedenspolitik und eine ökologische Landwirtschaft) oder die „Partei für schulmedizinische Verjüngungsforschung“, die bis 2022 den Namen „Partei für Gesundheitsforschung“trug. Ihre programmatische Forderung: Stellte die EU zusätzlich 40 Milliarden Euro jährlich für die Forschung zur Bekämpfung von Alterskrankheiten bereit, könnten mittels Reparatur von beschädigten Körperzellen die Menschen künftig bald Tausende Jahre gesund leben. Die „Partei für Veränderung, Vegetarier und Veganer“ (V-Partei) will Tierrechte einführen, die Nutztierhaltung beenden und in Europa den Fleischverzehr stoppen.
Man mag dies als Folklore abtun, was man bei der „Demokratischen Allianz für Vielfalt und Aufbruch“ (Dava) tunlichst unterlassen sollte. Die 2024 gegründete und von Kritikern als „Erdoğan-Ableger“ identifizierte Migrantenpartei will ein positiveres Bild des Islam fördern. Die meist türkischstämmigen Kandidaten der Partei sind ehemalige Funktionäre von teilweise vom Verfassungsschutz als legalistisch-islamistisch eingeordneten Organisationen. Es wird interessant zu sehen sein, inwieweit die Formation auf Zuspruch stößt. Erneut tritt auch das „Bündnis für Innovation und Gerechtigkeit“ (BIG) an, eine der ersten Parteien, die in Deutschland von Muslimen gegründet wurden. 2019 erhielt das BIG 0,2 Prozent. An eine linke Klientel wendet sich die Formation „MERA25 – Gemeinsam für Europäische Unabhängigkeit“. Sie ist eine Art deutscher Ableger der gleichnamigen Partei des ehemaligen griechischen Finanzministers Yanis Varoufakis und Teil der transnationalen paneuropäischen Bewegung „Demokratie in Europa 2025“ (DiEM25). Zum Programm gehören eine Vier-Tage-Woche und ein universelles bedingungsloses Grundeinkommen.
Die mit Straßenblockaden und Farbattacken bekannt und berüchtigt gewordene Gruppe „Letzte Generation“ strebt in zwei Wochen Mandate an, um die „Bühne für soziale und Klimabewegungen zu verbreitern“ und – wie es im Parteinamen heißt – das „Parlament aufzumischen“. Die Liste fordert, daß die EU-Staaten „spätestens bis 2030“ aus „Öl, Gas und Kohle“ aussteigen. Für den sozialen Ausgleich sollen dann neue Abgaben für „Reiche und Superreiche“ sorgen. Und die EU wiederum soll Reparationen an ehemalige europäische Kolonien zahlen. Außerdem sollen Europas Parlamente um „fair geloste Gesellschaftsräte“ ergänzt werden. Alle Kandidaten führen als Berufsbezeichnung „Klimaschützer“ an.
Nicht minder radikal sind die beiden traditionellen Linksaußenparteien DKP und MLPD sowie die linksextreme Splittergruppe Sozialistische Gleichheitspartei, Vierte Internationale“ (SGP). Doch von der Flaute der arg gerupften Linkspartei profitieren kann wahrscheinlich ein aussichtsreicher Newcomer. Das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) kommt in Umfragen derzeit auf sieben Prozent und das, obwohl die prominente Parteigründerin gar nicht zur Wahl steht. Doch die Kandidatenliste der Protestpartei kann sich sehen lassen.
Der Ökonom Fabio De Masi, der an erster Stelle kandidiert, gehörte von 2014 bis 2017 dem Europäischen Parlament und von 2017 bis 2021 dem Deutschen Bundestag an. Dabei machte er sich bei der Aufklärung von Finanzskandalen wie den Luxemburg-Leaks einen Namen. Dahinter kandidieren der langjährige Oberbürgermeister von Düsseldorf, Thomas Geisel, und der ehemalige UN-Diplomat Michael von der Schulenburg. Die Europawahl ist für das BSW ein Testlauf. Die Wahl am 9. Juni sei nicht nur für Europa wichtig, sagt Wagenknecht: „Die Europawahl ist die erste Wahl, wo man das BSW wählen kann und tatsächlich geht es bei dieser Wahl auch um Deutschland.“