© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 22/24 / 24. Mai 2024

„In deutscher Tradition“
Interview: Historischer Bruch? Oktroy der Alliierten? Von wegen! In unserem Grundgesetz steckt die lange deutsche Verfassungs- und Demokratiegeschichte. Warum es ein Glücksfall ist und wie es der Parlamentarische Rat vor 75 Jahren aus der Taufe hob, erklärt der Historiker Michael F. Feldkamp
Moritz Schwarz

Herr Dr. Feldkamp, unser Grundgesetz ist, so heißt es in fast jeder Rede, ein „Glücksfall der Geschichte“.

Michael F. Feldkamp: Ja. Und so ist es auch!

Kaum je wird aber erklärt warum.

Feldkamp: Weil es unseren freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat konstituiert.

Das hat vor ihm allerdings auch schon die Weimarer Reichsverfassung getan.

Feldkamp: Aber dem Grundgesetz ist es gelungen, die Kräfte und Mächte im Staat gekonnt auszubalancieren.

Zum Beispiel?

Feldkamp: In Weimar ernannte der Reichspräsident den Kanzler, der dann versuchen mußte, im Reichstag eine Mehrheit zu finden. Woraus gegen Ende der Republik ein Regieren per „Präsidialkabinett“ gegen den Reichstag wurde. Das Grundgesetz dagegen legt die Wahl des Kanzlers in die Hände des Bundestags. Sprich: In der Weimarer Republik standen Regierung und Parlament in Gegnerschaft. Mit dem Grundgesetz ist es zu einem konstruktiven Verhältnis von Regierung und Opposition im Parlament gekommen, was eine stabile Mehrheit sichert.

Außer eine Regierungskoalition zerbricht – wie vielleicht in den kommenden Monaten die Ampel. 

Feldkamp: Das wäre allerdings, käme das sogenannte Konstruktive Mißtrauensvotum zur Anwendung, erst das zweite Mal – nach 1982 – in 75 Jahren. Dennoch sprechen Sie einen wichtigen Punkt an: Wie gut eine Verfassung auch sein mag, entscheidend sind letztlich die Menschen, die mit ihr umgehen.

Das heißt?

Feldkamp: Daß der freiheitlich-demokratische Rechtsstaat, den das Grundgesetz entwirft, nur dann lebendig und stabil ist, wenn er auch in diesem Sinne gelebt wird.

Beraten und beschlossen wurde das Grundgesetz vom „Parlamentarischen Rat“ (siehe Seite 19), der aus Vertretern der Landesparlamente der westlichen Besatzungszonen bestand. Warum wurde diese verfassunggebende Versammlung nicht vom Volk gewählt und diesem das Grundgesetz nicht zur Abstimmung vorgelegt? 

Feldkamp: Offiziell weil der neue Staat 1949 ja nur ein Provisorium sein sollte. Wobei auffällig ist, daß bis 1948 im Zusammenhang mit der Rückkehr zur Demokratie viel von Volksabstimmungen gesprochen wurde, was dann aber schlagartig aufhört. Da kann man natürlich mutmaßen, ob die Politik vor so viel Mitbestimmung nicht doch vielleicht zurückscheute. Übrigens: Der nominell provisorische Charakter ist auch der Grund, warum das Grundgesetz so „schlank“ ist und im Grunde nur das Nötigste enthält. Denn all die gesellschaftlichen Fragen – etwa ob Elternrechte, ein Streikrecht, ein Recht auf Wohnen oder wie heute gefordert, Klima- und Umweltschutz, Kinder- oder Tierrechte darin verankert werden sollen – verschob man auf eine später zu verabschiedende Verfassung. Inklusive der Frage, ob sie durch Volksabstimmung anzunehmen sei.

Heute verwenden wir „Verfassung“ und „Grundgesetz“ synonym. Warum, wenn der Name damals gewählt wurde, weil es eben keine Verfassung ist?

Feldkamp: Natürlich ist das Grundgesetz eine Verfassung. Was bitte soll denn eine „Vollverfassung“ sein, die das Grundgesetz 1949 angeblich nicht gewesen sei? Nein, zu dieser verbalen Augenwischerei wurde damals gegriffen, weil man den Anspruch auf die Einheit Deutschlands nicht aufgeben wollte und meinte, nur die ganze Nation könne eine „Vollverfassung“ beschließen. Auch fürchteten die Parteien, vor dem Wähler schlecht dazustehen, wenn sie etwas verabschiedeten, das vielleicht den Eindruck erweckt, man akzeptiere die deutsche Teilung. Der Begriff Grundgesetz sollte deutlich machen, die Westalliierten wollen einen westdeutschen Staat: Nun gut, aber wir sind nur zu einem Provisorium bereit!

Lange wurde ihm vorgeworfen, ein Gesetz von alliierten Gnaden zu sein. Ist da etwas dran?

Feldkamp: Nein. Als aber ab 1946 die Länder wiederentstanden, mischten sich vor allem Amerikaner und Franzosen stark in die Ausarbeitung der Landesverfassungen ein. Das wollte der Parlamentarische Rat für das Grundgesetz vermeiden, wobei ihm entgegenkam, daß die Alliierten von sich aus immer zurückhaltender wurden.

Warum?

Feldkamp: Zum einen, weil sie fürchten, ihre Einmischung könne dem Ansehen der neuen Verfassung beim deutschen Volk schaden. Zum anderen, weil sie die Verfassungsgebung angesichts der weltpolitischen Lage nicht unnötig verzögern wollten. Denn inzwischen war der Kalte Krieg in vollem Gange, und während der Parlamentarische Rat tagte, rangen die Alliierten mittels der Luftbrücke um die Existenz der von den Sowjets eingekesselten West-Berliner. Da die Westalliierten sahen, daß der Parlamentarische Rat die von ihnen gewünschten allgemeinen Grundsätze, wie Dezentralisierung und Demokratisierung, ohnehin verfolgte, gaben sie ihm schließlich freie Hand: Lassen wir die Deutschen machen, was sie wollen, damit sie zügig zu einem Ergebnis kommen!

Also ist das Grundgesetz kein Oktroy der Alliierten?

Feldkamp: Jawohl, und das nicht nur aus dem genannten Grund, sondern auch, weil die allgemeinen Grundsätze, die die Alliierten einforderten, sowieso der deutschen Verfassungstradition entsprachen: Die Dezentralisierung entsprach bereits der Praxis des föderalen Heiligen Römischen Reiches, und die Demokratisierung entstand in der deutschen Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts, und wurde, wenn auch anfänglich zögerlich, im Kaiserreich umgesetzt und kam in der Weimarer Republik erstmals vollständig zum Tragen.

Dann stimmt die Behauptung, „die Alliierten haben uns die Demokratie beigebracht“, also nicht?

Feldkamp: Gebracht ja, beigebracht nein, denn ihr Wiederentstehen stand dem Selbstverständnis des Parlamentarischen Rates zufolge ganz in der Tradition der demokratischen Bewegung von 1848/49, deren 100. Jubiläum man passenderweise damals feierte. Das heißt natürlich nicht, daß man bei Ausarbeitung des Grundgesetzes etwa auf die Paulskirchen-Verfassung von 1849 zurückgriff, sondern daß man dort anschloß, wohin diese Tradition geführt hatte – und das war die Weimarer Reichsverfassung.

Aber steht das Grundgesetz nicht in Abkehr von dieser?

Feldkamp: Nein, der Eindruck entsteht fälschlich, weil die wesentlichen Neuerungen des Grundgesetzes zur Verdeutlichung gerne anhand der Weimarer Verfassung als Kontrast erklärt werden. Tatsächlich aber stellen sie keinen Bruch, sondern eine „bewußte Fortentwicklung“ der deutschen Verfassungstradition dar. Was auch nicht wundert, waren doch die meisten Mitglieder des Parlamentarischen Rates in der Weimarer Republik sozialisiert. Übrigens: Der langjährige Weimarer Parlamentspräsident und Sozialdemokrat Paul Löbe hatte wiederholt die Kontinuitäten von Reichstag und Bundestag beschworen. Im Gegensatz dazu betonte jedoch der Schweizer Journalist Fritz René Allemann schon mit dem Titel seines Buches „Bonn ist nicht Weimar“ 1956 eher die Gegensätze beider Republiken. Weniger der Inhalt als der griffige Buchtitel gehörten zu den geflügelten Worten, mit denen die Bonner Republik fortan ihr gerade erst erworbenes Selbstbewußtsein beschrieb. „Bonn ist nicht Weimar“ wurde zu einem Narrativ, das sich fortan wie ein Leitspruch oder Merksatz eingeprägt hat. Erst seit den 2010er-Jahren haben Staats- und Verfassungsrechtler einen nüchterneren und viel wohlwollenderen Blick aus staatsrechtlicher Perspektive auf das bedeutsame Weimarer Verfassungswerk gewagt.

Gibt es trotz allem auch Elemente im Grundgesetz, die auf die Alliierten zurückgehen?

Feldkamp: Nur geringe Spuren, etwa Artikel 72, in dem es um konkurrierende Gesetzgebung zwischen Bund und Ländern geht, die die Alliierten auch in ihrem Genehmigungsschreiben vom 12. Mai 1949 aufgriffen. Der 72er wurde später bei einer Grundgesetzänderung angepaßt. Allerdings verlangten die Alliierten, im Einvernehmen mit der deutschen Verfassungstradition das Grundgesetz durch eine Zweidrittelmehrheit anzunehmen. Das war mit 53 zu 12 Stimmen im Parlamentarischen Rat dann auch erfolgt. Die Alliierten hatten sich zunächst für eine Volksabstimmung über das Grundgesetz ausgesprochen. Im Mai 1949 schwenkten sie aber auf die Linie von Parlamentarischem Rat und Ministerpräsidenten ein und standen einer Annahme durch die Landtage nicht mehr im Wege, was die repräsentative parlamentarische Demokratie stärkte. Da es bis auf Bayern alle Landtage annahmen, wurde das Grundgesetz am 23. Mai 1949 ausgefertigt und verkündet und trat am 24. Mai in Kraft.

Blickt man etwa nach Italien, das seit 1946 unter 31 Regierungschefs 68 Kabinette hatte (gegenüber 24 unter neun Kanzlern bei uns) oder Frankreich mit seinen Staatskrisen 1958 und 1968, so erscheint das Grundgesetz tatsächlich gelungen. Ist aber nicht auch die beste Konstruktion nach 75 Jahren sanierungsbedürftig?

Feldkamp: Nein, das Grundgesetz ist bestens in Schuß. Freilich gibt es Überlegungen, etwa durch Bürgerräte Neuerungen einzuführen, aber die erhalten keinen Verfassungsrang.

Diese „Bürgerräte“ sind doch eher ein Anschlag auf das Grundgesetz. Was aber ist mit Volksabstimmungen?

Feldkamp: Ich würde das nicht so hart formulieren. Immerhin hat es mich aber überrascht, daß Wolfgang Schäuble, der noch als Parlamentspräsident der 19. Wahlperiode die Bürgerräte eingeführt hatte, in seiner Ansprache als Alterspräsident der Konstituierenden Sitzung am 26. Oktober 2021 anmahnte, die Bürgerräte zu überdenken. Er sah die Möglichkeit, daß ihre Ergebnisse den repräsentativ-demokratischen Entscheidungen des Bundestags entgegenstehen könnten: So käme es zur Einschränkung der Gestaltungsspielräume des Gesetzgebers. Gleiches gilt dann auch für Volksabstimmungen, die das Vertrauen in die demokratischen Strukturen dauerhaft belasten würden.

Warum?

Feldkamp: Weil sie einen Eingriff in die parlamentarisch-repräsentative Demokratie wären, die ja den Kern des Grundgesetzes ausmacht.

Eben das doch ist der Sinn: einen Teil der Macht des Parlaments an den Souverän, das Volk, zurückzugeben.

Feldkamp: Bereits die Weimarer Verfassungsväter und -mütter haben sich gegen räterepublikanische Elemente gewandt. Diese Entscheidung hat das Grundgesetz bekräftigt. Im übrigen sind letztlich die Menschen entscheidend, eine Verfassung mit Leben zu erfüllen. Erfolgt das nicht aus einem Verantwortungsbewußtsein eben dafür heraus, nützten auch die besten Grundgesetzänderungen nichts.

Aber erleben wir nicht ein massives Systemversagen? Immer mehr Bürger fühlen sich nicht repräsentiert. Das Korrektursystem der Demokratie dafür sind neue Parteien. Beim Aufkommen der Grünen hat dieser Mechanismus noch funktioniert, jetzt aber wird er von den Etablierten boykottiert. Weil eine politische Klasse entstanden ist, die „zugleich machtvergessen und machtversessen“ (Richard von Weizsäcker), „sich den Staat zur Beute macht“ (Hans Herbert von Arnim).  

Feldkamp: Die Kritik Weizsäckers und von Arnims zielte doch stets auf das politische Personal: Sie bestätigt also, daß das Problem der Mensch ist – und damit mein Monitum. Dazu eine interessante Beobachtung: Man liest immer wieder, einer der besten US-Präsidenten sei Ronald Reagan gewesen. Warum? Weil er verstanden habe, die besten Berater zu rekrutieren. In diese Richtung geht auch, daß Bundestagspräsident Norbert Lammert in seiner Abschiedsrede 2017 gefordert hat, der Abgeordnete dürfe nicht nur seinen Wahlkreis und seine Partei, sondern müsse auch das Wohl des Landes im Blick haben. Immer wieder landen wir also beim Personal!

Aber was hat dessen Auswahl begünstigt und Mentalität geprägt? Das Grundgesetz verleiht den Parteien eine starke Stellung, was 1949 sinnvoll war, heute aber zeigt sich die Kehrseite: Mächtige Parteien entwickeln ein Eigenleben. Direktdemokratische Elemente könnten das zügeln, aber „die politische Klasse hat sich im Parteienprivileg des Grundgesetzes eingerichtet“, schrieb Markus C. Kerber im „Handelsblatt“ und Arnulf Baring in der „FAZ“, daß „unsere Verfassung durchgreifende Lösungen erschwert“ gegenüber „einer drohnenhaften Herrschaftskaste“ von „Parlamentariern, denen ihr Volk fremd ist“, weshalb „sie auf den Prüfstand muß“.

Feldkamp: Ich glaube einfach nicht, daß es bewirken würde, was diese sich davon versprechen. Denn sie verkennen, wo die Wurzel des Problems liegt: in der Gesellschaft, wo Mentalitäten entstanden sind, die möglicherweise unser politisches System nicht mehr ausreichend beleben. Daran ändert aber eine grundlegende Verfassungsreform nichts. Die Lösung liegt also nicht jenseits der Parteien, sondern in ihnen, als vitalem Organ des politischen Organismus – in ihnen gilt es wieder den Geist zu entfachen, der sie lange Zeit erfüllt hat und die Bundesrepublik Deutschland zu einem so erfolgreichen Staat gemacht hat.


Dr. Michael F. Feldkamp: Der Fachmann für die Parlaments- und frühe Verfassungsgeschichte der Bundesrepublik, geboren 1962 in Kiel, schrieb mehrere Bücher zum Thema: „Der Parlamentarische Rat 1948/49“, „Die Entstehung des Grundgesetzes 1949“, „Die Institutionen. Der Bundestag 1949 bis heute“ sowie 2023 „Adenauer, die Alliierten und das Grundgesetz“.