© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 21/24 / 17. Mai 2024

Der Flaneur
Im Büchersturm
Maria Bentz

Telefonhäuschen gehören einer bedrohten, aussterbenden Art an. Früher über Stadt und Land verstreut, bildeten die gelben Gehäuse zuverlässige Plätze der Kommunikation. Notrufe, schnelle Botschaften, Überraschungsankündigungen, Liebesgeflüster. Man stand im Trockenen und nahm Kontakt auf, hektisch im Telefonbuch blätternd oder einfach plaudernd. Aber ein mahnendes „Fasse dich kurz“, dem nächsten Wartenden geschuldet, stoppte den allzu Redseligen. 

Aus alten Krimis sind sie nicht wegzudenken, Kulissen für dramatische Szenen: im letzten Moment erreicht, ein letzter Hilfeschrei, bevor Gewehrsalven einschlagen, der Hörer baumelt.

„Halt, was machen Sie da?“ rufe ich, und ein Passant mischt sich ein: 

„Stopp, sofort stopp!“

Mit der Zeit verkamen die Häuschen, schluckten keine Münzen mehr, wurden Opfer von Zerstörungslust, wurden nach und nach ersetzt durch die kleinen Apparate, die jetzt jeder in der Tasche trägt, inklusive der „Telefonbücher“, deren papierne Vorgänger erste Opfer des Vandalismus waren. 

Die Telefonbücher sind tot, aber andere Bücher werden seit neuestem Opfer der offenbar unsterblichen Zerstörungswut. Denn viele kleine Häuschen leben noch, die ebenfalls einen Kommunikationsschatz bergen: Bücher jeglicher Art, hineingestellt von lesenden Bürgern, wert, weitergegeben zu werden, öffentliche Bürger-Minibibliotheken sozusagen. Jeder kann nach Lust und Laune stöbern, mitnehmen (und wieder zurückbringen), tauschen, schenken. Sie sind Herberge für manches Kleinod.

Eine solche hatte mein Spaziergang zum Ziel. Was passiert? Ein fremdländisch wirkender Mitmensch hat den Schrein geöffnet, zieht wahllos Bücher heraus und zerreißt sie. 

„Halt, was machen Sie da?“, mein empörter Ruf. Der Bücherzerreißer blickt kurz auf: „F…ing books!“, schreit er und macht weiter. Glücklicherweise nähert sich ein hochgewachsener Norddeutscher dem Geschehen und ruft allgemeinverständlich: „Stopp, sofort stopp!“ Das Handy gezückt. Diese Sprache versteht der Bücherhasser, dreht uns den Rücken zu und entschwindet. „Sie sollten als Frau vorsichtiger sein“, mahnt mich der Retter, „denen sitzt das Messer locker.“

Auf dem Boden liegen Romane, Kafka und Ernst Wiechert. Die Autoren können nicht Stein des Anstoßes gewesen sein, denn auch ein Bildband über Gartenpflanzen wurde zerpflückt. Für ihn muß man noch nicht einmal des Lesens mächtig sein.




Beethoven begreift in sich die ganze, runde, komplexe Menschennatur. Wilhelm Furtwängler (1886–1954), Dirigent