Das Dokument, das Adolf Hitler am 23. Mai 1944 auf dem Obersalzberg vorgelegt wird, erschüttert den Diktator bis ins Mark. Eine halbe Minute, so berichten Zeugen, soll Hitler sich die Augen zugehalten haben. Vielleicht sieht er in diesen Sekunden das, was bald eintreten sollte. Seine Armeen sind mit Holzvergaser-Lkws und Pferdegespannen, auf Fahrrädern oder zu Fuß unterwegs. Die Luftwaffe mit ihren überlegenen Düsenjägern – eine Me 262 benötigt für einen Einsatz 1,5 Tonnen Treibstoff – ist ausgefallen, die 1.500 modernen Tiger- und Panther-Panzer praktisch bewegungsunfähig. Der Wehrmacht droht das Lebenselixier auszugehen, der Treibstoff. Wovor Hitler erst die Augen verschließt und was er dann doch ausgiebig studiert, ist ein Plan des Leuna-Werkes beziehungsweise dessen, was davon nach dem ersten Großangriff alliierter Bomber elf Tage zuvor übriggeblieben ist. Detailliert sind alle 2.200 Bombentreffer mit ihrer Größe und Auswirkung eingezeichnet.
Erst Wochen später, in den ersten Julitagen 1944, liegen, als „Geheime Reichssache“ deklariert, alle Zahlen über die verbleibenden Vergaser- und Dieseltreibstoffe, vor allem aber Flugbenzin vor. Gelänge es nicht, die zerstören Hydrierwerke wieder in Betrieb zu nehmen und diese vor den für Juli und August erwarteten alliierten Fliegerangriffen zu schützen, entstehe im September eine „unüberbrückbare Lücke in der Treibstoffversorgung“, schreibt Rüstungsminister Alfred Speer in seiner Hydrierdenkschrift vom 30. Juni 1944 an seinen Führer. Und da dieser nicht nur als technikaffin, sondern auch als detailverliebt gilt, untermauert Speer seine Einschätzung mit langen Listen exakter Zahlen: wie die Produktion insbesondere von Flugbenzin immer mehr sinkt, welche Auswirkungen die Angriffe auf Leuna bei Merseburg und Pölitz bei Stettin an der Odermündung haben, wo synthetische Kraftstoffe aus Braunkohle gewonnen werden.
Der Generalstab der Luftwaffe hatte den Angriff auf die deutsche Treibstoffindustrie seit langem erwartet. Kurz bevor der erste große Schlag tatsächlich erfolgt, wundert man sich, so ein Protokoll vom April 1944, „warum der Anglo-Amerikaner diese Anlagen noch nicht zerschlagen hat, wozu er bei seiner in letzter Zeit so hochentwickelten Angriffstechnik ohne weiteres in der Lage wäre. Mit der Zerstörung unserer wenigen großen Raffinerien und Hydrierwerke könnte er einen Erfolg erringen, der tatsächlich die Möglichkeiten einer Fortsetzung des Krieges durchaus in Frage stellen würde“.
„An diesem Tage wurde der technische Krieg entschieden“
Am 12. Mai 1944 greifen 935 strategische Bomber mit Hunderten Begleitjägern gleichzeitig die fünf Hydrierwerke Leuna, Lützkendorf, Böhlen, Zeitz-Tröglitz und Brüx/Oberleutendorf an. Es beginnt ein Kampf, der als „Battle of Leuna“ in die US-amerikanische Kriegsgeschichte eingeht. Allein auf die mitteldeutschen Hydrierwerke in Leuna fallen rund 1.700 Tonnen Sprengstoff. „An diesem Tage wurde der technische Krieg entschieden“, schreibt Speer später in seinen Erinnerungen.
Am 29. Mai nehmen die Amerikaner das ebenso große Hydrierwerk in Pölitz ins Visier – mit einer Jahreskapazität von rund 700.000 Tonnen die größte Anlage. Die Offensive gegen die deutsche Treibstoffproduktion hat bekonnen. Bis April 1945 werfen die Alliierten bei 206 Tag- und Nachtangriffen auf 24 Hydrier- und Synthese-Werke insgesamt 216.322 Tonnen Bomben ab – Sprengminen und Phosphor- und Stabbrandbomben, allein auf den Großraum Leuna/Merseburg/Krumpa/Schkopau bei 22 Angriffen mit insgesamt 6.552 Bombern. Allerdings treffen gerade einmal zehn Prozent die Leunawerke.
Nach dem ersten Großangriff im Mai 1944 fallen achtzig Prozent von Leuna vorübergehend aus. Kaum wird die Produktion wieder hochgefahren, erfolgt ein zweiter Angriff. Und die Alliierten weiten ihre Angriffe aus. Am 12. Juni wird ein Komplettausfall von Moosbierbaum, am 13. Juni von Gelsenberg gemeldet. Welheim und Scholen melden nach Angriffen kurze Störungen. Ein erneuter Angriff auf Pölitz läßt den Plan, hier bis August wieder zu produzieren, Makulatur werden. Dann meldet Scholen am 22. Juni einen Produktionsausfall von zwanzig, Wesseling von vierzig Prozent. Die tägliche Produktion fällt auf 662 Tonnen Flugbenzin. Zwei Tage später produziert wenigstens Leuna wieder zwanzig Prozent, um damit 1.300 Tonnen Kerosin bereitzustellen. Dafür fällt Moosbierbaum komplett aus.
Es sei „vorausschauend festzulegen, wie der Krieg weitergeführt werden kann, wenn nur noch ein Teil der jetzigen Treibstoffmengen zur Verfügung stehen sollte“, schreibt Speer an Hitler. Denn im Frühjahr 1944 läuft gerade erst das Jägernotprogramm an, mit dem Deutschland die Luftüberlegenheit über dem Reich wiederherstellen wollte.Im April verbraucht die Luftwaffe 165.000 Tonnen Flugbenzin, bei einer Erzeugung von 175.000 Tonnen, täglich durchschnittlich 5.800 Tonnen. Es ist sogar möglich, Reserven zu schaffen. Davon kann im Juni keine Rede mehr sein. Einem Verbrauch von 195.000 Tonnen im Mai steht nur mehr eine Gesamterzeugung von 53.000 Tonnen gegenüber.
Nicht viel besser sieht es beim Vergaser-Kraftstoff und beim Diesel aus. Hier steht – einschließlich Importen – einer Erzeugung von 96.000 Tonnen im Juni ein Verbrauch von 205.000 Tonnen beziehungsweise von 94.000 Tonnen zu 194.000 Tonnen gegenüber. Zudem geht durch die Zerstörung der Hydrierwerke das Treibgas aus, das in der Heimat als wichtigster Ersatz für Treibstoffe eingesetzt wird. Hier sinkt die Erzeugung von 37.600 Tonnen im April auf 10.400 im Juni.
„Leuna ist ein riesiges Denkmal deutscher chemischer Zauberei“
Was Speer besonders wütend macht: Die feindliche Luftaufklärung und Spionage ist so gut, daß die Alliierten stets dann erneut zuschlagen, wenn die Deutschen die Werke gerade wieder zum Laufen gebracht haben. Er fordert umgehende Schutzmaßnahmen für „sämtliche Hydrierwerke und Raffinerien, auch wenn sie erst in ein, zwei Monaten zum Anlaufen kommen wie Heydebreck und Blechhammer in Oberschlesien“. Der Jagdschutz für die Werke soll verstärkt werden, „da bei einer erfolgreichen Fortsetzung der Angriffe die Luftwaffe im September wegen Treibstoffmangel ohnehin nur noch mit einem Teil ihre Jagdflugzeuger fliegen kann“. Den acht wichtigsten Hydrierwerken, so heißt es in der Denkschrift , sei jeweils ein „Schwarm Hochleistungsjäger Me 109 mAS-Mot.“ – also Raketenjägern – zuzuteilen. Außerdem verlangt der Minister Arbeitskräfte und Material, insbesondere Beton für Luftschutzbauten und Scheinanlagen. Die Städte sollen ihre Flak, die Marine ihre Vernebelungsanlagen abgeben, um dem Gegner die Aufklärung zu erschweren. Und die Wehrmacht soll auf Holzvergaser umstellen. Alle sollen sparen, sparen, sparen. In der zweiten Hydrierdenkschrift vom 30. Juli 1944 fordert Speer gar das Zurückziehen der Jagdwaffe von den Fronten zum Schutz der Treibstoffwerke.
Speer bekommt von seinem Führer, was er fordert: allein für Leuna etliche neue Raketenjäger „Komet“, fast 500 schwere und Hunderte leichte Flakgeschütze, drei Eisenbahnflakzüge, Nebelanlagen, mehr als 350.000 Arbeitskräfte, 800.000 Kubikmeter Beton.Ein Mineralölsicherungsplan wird aufgelegt, um die Produktion unter die Erde zu bringen. Und der Minister versucht zu liefern: „Die Bau- und Reparaturleistungen zur Wiederaufnahme der Produktion in den beschädigten Anlagen nahmen ungewöhnliche Ausmaße an“, analysiert die US-Zeitschrift Popular Science rückblickend im November 1945: „Diese Anlage in Leuna ist ein riesiges Denkmal deutscher chemischer Zauberei. Es niederzukämpfen, hieß eine Katze zu töten. Es mußte neunmal geschehen, um es endgültig zu machen (…) Es war ein Menschenwerk mit einer Serie auswechselbarer Herzen (…) Leuna war grimmig verteidigt worden.“ Die Piloten fürchteten die „Flakhölle von Merseburg“.
US Army, Air Force und Royal Air Force bomben trotz hoher Verluste weiter – 123 Bomber werden bei Leuna/Merseburg abgeschossen, zumeist von der Flak. Im September liegt die Gesamterzeugung nur noch bei acht Prozent der im April erreichten Menge. Von Juni 1944 bis zum Kriegsende können nur noch 197.000 Tonnen Flugbenzin erzeugt werden, was einer Monatsproduktion vor den Angriffen entspricht. Hitlers bange Visionen von Pferden, Fahrrädern und Holzvergasern sind Realität. Die wenigen Düsenjäger, für die der Sprit noch reicht, werden mit Gespannen zum Start gezogen.
Allerdings gelingt es den Alliierten bis Kriegsende nicht, die Treibstoffproduktion völlig zum Erliegen zu bringen. So produziert Leuna bis zum 4. April, die „Hydrierfestung“ Pölitz sogar noch bis zu ihrer Einnahme durch die Rote Armee am 26. April 1945.
Foto: Zerstörungen im Hydrierwerk Leuna 1944: Rüstungsminister Albert Speer ordnete seiner Verteidigung höchste Priorität zu
Foto: „Fliegende Festung“-Bomber der US-Luftflotte greift 1944 die Leunawerke an: Die Piloten fürchteten die „Flakhölle von Merseburg“