© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 21/24 / 17. Mai 2024

Immer noch nicht beerdigt
Eine Neubewertung bleibt die Lenin-Biographie von Verena Moritz und Hannes Leidinger schuldig
Dirk Glaser

Wie viele Straßen und Plätze in der DDR bis 1990 dem Andenken Wladimir Iljitsch Uljanows, besser bekannt als Lenin, gewidmet waren, ist nicht mehr zu ermitteln. Mindestens einige hundert dürften es gewesen sein. Sicher ist hingegen, daß davon immer noch 26 Lenin-Straßen übriggeblieben sind. Die einstige „Gottheit der Arbeiterklasse“, rangiert damit hinter Puschkin, Gorki, Tschaikowski und dem Kosmonauten Juri Gagarin nur noch auf Platz fünf der in Mitteldeutschland derart geehrten russischen Persönlichkeiten. Immerhin aber darf sich Schwerin, die Landeshauptstadt Mecklenburg-Vorpommerns, dort, wo nach einem Wort Bismarcks selbst der Weltuntergang mit 50jähriger Verspätung stattfinden wird, rühmen, mit einer 1985 aufgestellten überlebensgroßen Statue das westlichste Lenin-Denkmal Europas zu beherbergen. 

Auf Lenins mörderisches Wirken nach 1917 keinen Fokus gelegt 

Dessen Pendant, nicht das östlichste, aber das gewaltigste im europäischen Teil Rußlands, steht in Wolgograd (Stalingrad), 57 Meter hoch, 1.400 Tonnen schwer. Auch in Königsberg (Kaliningrad), wo ein fünf Meter hoher Lenin am Haus der Künste grüßt, und selbst in der nahen Kleinstadt Gerdauen, wo der „teure Führer“ weiterhin am Marktplatz präsent ist, sind die Ausläufer des sowjetischen Lenin-Kults nicht der Zeitenwende von 1989 zum Opfer gefallen. Obwohl in der Russischen Föderation seitdem Stimmen lauter geworden sind, Lenin erinnerungspolitisch final zu entsorgen. Und ihn im wahrsten Sinne zu beerdigen, indem der einbalsamierte Leichnam im Mausoleum auf dem Moskauer Roten Platz nicht länger als Touristenattraktion feilgeboten werden möge. Was der in Wladimir Putins Rußland offiziell erwünschten Erzählung vom Vaterlandsverräter entspräche, der als Verfechter einer westlichen, marxistischen Ideologie und als Agent fremder Mächte seine Heimat ins Chaos stürzte.

Durchgesetzt hat sich auch dieses Lenin-Bild bisher nicht, wie Demoskopen zum 100. Jahrestag der Oktoberrevolution ermittelten: 2017 bewerteten 56 Prozent der von ihnen befragten Russen den Bolschewikenführer nach wie vor positiv. Da auch im Westen kein Konsens in der Beurteilung von Leben und Leistung einer weltgeschichtlichen Figur besteht, die glaubte, die klassenlose Gesellschaft lasse sich durch staatlichen Terror „herbeimorden“ (Karl Kautsky), ist das Wiener Historikerduo Verena Moritz und Hannes Leidinger mit einer Biographie auf den Plan getreten, die eine im Meer positiver und negativer „Zuschreibungen“ Orientierung gebende „Neubewertung“ Lenins verspricht. Diese bleiben sie dem Leser jedoch schuldig. 

Denn weder der Theoretiker des Sozialismus noch der Urheber eines von Stalin perfektionierten Terrorregimes gewinnen bei Moritz und Leidinger Kontur. Gerade einmal 100 ihrer gut 600 Seiten widmen sie jenem letzten Lebensabschnitt, der für die Forschung stets im Zentrum stand und der dank Peter Scheiberts „Lenin an der Macht“ (1982) und Dimitri Wolkogonows „Lenin. Utopie und Terror“ (1993) diese kommunistische Lichtgestalt als monströsen Menschheitsverbrecher offenbart. Da hierzu insbesondere nach der Öffnung der russischen Archive während der Jelzin-Ära, zu denen Wolkogonow seit 1985 als Direktor des Instituts für Militärgeschichte des Verteidigungsministeriums der UdSSR und seit 1991 als deren Generaldirektor einen privilegierten Zugang hatte, „alles schon erzählt“ worden sei und ungeachtet der 3.700 noch unveröffentlichten Manuskripte des prototypischen Schreibtischtäters „im wesentlichen keine großen Überraschungen“ zu erwarten seien, verlegen sie den Schwerpunkt ihrer Darstellung auf den jungen Lenin und die Frühgeschichte der bolschewistischen Partei. Um in diesem Rahmen immer wieder darüber zu rätseln, ob Lenin nicht schon zu Beginn seiner Karriere als Berufsrevolutionär jene Kontakte zum deutschen oder österreichischen Militärgeheimdienst knüpfte, die ihm 1917 halfen, mit Hilfe der Obersten Heeresleitung im Sonderzug durch Deutschland ins Rußland der Februar-Revolution reisen zu dürfen. 

Da die Autoren diese Frage nicht durch eigene Archivrecherchen klären, bleibt ihnen nur, die Forschung zu resümieren, die zwar nachweist, daß der bolschewistischen Partei enorme Summen aus dem Etat des deutschen Auswärtigen Amts zwecks „Zerschlagung Rußlands durch Revolution“ (Wolkogonow) zuflossen, aber Einzelheiten darüber nicht aufklären kann. Hier hätte sich ein günstiger Ansatz zur „Neubewertung“ vielleicht genauso ergeben wie mit der Einsicht in die Akten der Kommunistischen Internationale – doch die seien „von jeher als streng geheim klassifiziert“ und weiterhin unzugänglich. Die Archive hielten also doch noch „große Überraschungen“ parat.

Stattdessen bewegen sich Moritz und Leidinger lieber auf dem gut vermessenen Terrain der Exiljahre. Und beuten dafür die bis heute nicht veraltete Untersuchung des Tübinger Osteuropahistorikers Dietrich Geyer über „Lenin in der russischen Sozialdemokratie“ zwischen 1890 und 1903 (1962) nach Kräften aus. Naturgemäß ohne „große Überraschungen“ sich im trockenen Referat erschöpfend und drei wesentliche Erkenntnisse der älteren Literatur bestätigend: 

Erstens. Ohne Lenins Willen zur Macht und ohne seine radikale Entschlossenheit, aus der Russischen Sozialdemokratischen Partei keine Massenpartei, sondern eine „eiserne Kohorte Weniger“ zu formen, die „Millionen führen soll“ (Valeriu Marcu, 1927), hätte im Zarenreich keine „Große Sozialistische Oktoberrevolution“ stattgefunden. Was einmal mehr die während der Dominanz der „Geschichte als kritische Sozialwissenschaft“ erstickte These von den Männern, die Geschichte machen, eindrucksvoll rehabilitiert. 

Lenins Verachtung des „parlamentarischen Kretinismus“ 

Zweitens. Lenins Machttrieb und Machbarkeitswahn ließ seiner Politik keine andere Option als die, Gewalt im Sinne von Karl Marx als „Hebamme der zukünftigen Gesellschaft“ zu akzeptieren. Nicht die Diktatur des Proletariats, sondern die Diktatur der alle sozialistischen, liberalen und konservativen Konkurrenten liquidierenden bolschewistischen Partei über das Proletariat und alle russischen Nicht-Proletarier war daher das Resultat von Lenins Machtergreifung: „Das neue Rußland war ein Land des Terrors“ (Jörg Baberowski, 2003). 

Drittens. Von Rosa Luxemburg rührt die feine Beobachtung, daß die Organisation von Lenins autoritär und zentralistisch geführter Kadertruppe ein verblüffendes Spiegelbild en miniature der autokratischen Gewaltherrschaft des Zaren abgebe. Seine Verachtung der westeuropäischen Modelle des demokratischen Pluralismus samt ihres „parlamentarischen Kretinismus“ wurzle daher nicht im Marxismus. Seine Staats- und Gesellschaftstheorie weise vielmehr genuin russische Prägungen auf. Das gelte ebenso, wie andere Lenin-Kritiker bemerkten, für deren ersatzreligiös-eschatologische Dimension. Waren die roten „Glaubenskrieger“ (Baberowski) doch überzeugt davon, ausgerechnet im unterentwickelten Rußland unter Umgehung der Entwicklungsstufe des ausgereiften Kapitalismus einen Klassenkampf ausfechten zu können, der die Gesellschaft direkt und gewaltsam ins herrschaftsfreie Elysium des Arbeiter- und Bauernparadieses transformiert.

Da Moritz und Leidinger sich für den Ideologen Lenin, sein Welt- und Menschenbild, kaum interessieren, erfährt der Leser nicht, zu welchem positiven Ziel dieser notorische „Verneinungsgeist“ (Erwin Hölzle, 1968) hinstrebte. Das ist schade, weil sein lehrreich abschreckender Glaube an das transzendenzlose Glück, das dem zum Gattungsteilnehmer reduzierten Menschen allein im Kollektiv winkt, gegenwärtig Urstände feiert und in den transhumanen Davoser Visionen vom „Neustart der Weltgesellschaft“ zu einem weiteren sozialistischen Experiment einlädt.


Verena Moritz, Hannes Leidinger: Lenin. Die Biografie. Eine Neubewertung.Residenz Verlag, Salzburg-Wien 2023, gebunden, 654 Seiten, 38 Euro


Foto: Anhänger der Russischen Kommunistischen Partei feiern am Lenin-Mausoleum seinen 153. Geburtstag, Moskau 2023: Keine andere Option, als die Gewalt als „Hebamme der zukünftigen Gesellschaft“ zu akzeptieren