© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 21/24 / 17. Mai 2024

Warum Deutschland Interesse an der ukrainischen Selbstbehauptung haben muß
Phantomschmerz im Kreml
Hans-Christof Kraus

Der russische Angriff auf die Ukraine und die westlichen Reaktionen auf den seit mehr als zwei Jahren andauernden Krieg in Osteuropa haben in Deutschland in zunehmendem Maße eine eklatante Verwirrung der Begriffe und eine fatale Verschiebung der Perspektiven hervorgerufen. Stellungnahmen zu diesem Krieg werden fast sofort zu Positionen im Kontext spezifisch innerdeutscher Kontroversen sowie im innen- und tagespolitischen Machtkampf der politischen Parteien. Grundsätzliches bleibt dabei ebenso ausgespart wie die deutschen Interessen als europäische Mittelmacht in den Konfliktlagen gegenwärtiger internationaler Politik. Einige notwendige Klarstellungen, die historisch-politische Position unseres Landes betreffend, erscheinen daher als dringend notwendig.

Zuerst: Deutschland ist ein Land des Westens, also ein Teil der historisch gewachsenen Völker-, Staaten-, Rechts- und Kulturgemeinschaft West- und Mitteleuropas sowie ihrer historisch entstandenen Ableger in anderen Teilen der Welt. Das haben die großen deutschen Denker und Gelehrten immer gewußt: Für Leopold Ranke etwa, den Begründer der modernen deutschen Geschichtswissenschaft, gehörte Deutschland mit unhinterfragter Selbstverständlichkeit zur Gemeinschaft der von ihm so genannten „romanischen und germanischen Völker“ des europäischen Kontinents. Für Friedrich Carl von Savigny, den größten Rechtsgelehrten Deutschlands im 19. Jahrhundert, war und blieb sein Land ein integraler Bestandteil der großen kontinentaleuropäischen Rechtsfamilie, die das Erbe des römischen Rechts übernommen und weitergebildet hatte. Für Friedrich Ratzel, den großen deutschen Geographen und Mitbegründer der modernen Geopolitik, war Deutschland ebenfalls geographisch wie kulturell ein integraler Bestandteil West- und Mitteleuropas und seiner geistigen und kulturellen Ideale – mit scharfer Abgrenzung gegen Osten: „Die deutsch-russische Grenze“, schrieb er 1898, „ist nicht die Grenze zweier Staaten, sondern zweier Welten“. Und dieser Unterschied bewirke, „daß wir uns geistig im Osten vor einer kalten Wand fühlen“.

Das bedeutete schon damals zwar keine prinzipielle Abgrenzung, auch keine Abschottung oder gar Feindseligkeit gegen „den Osten“ – aber doch, was Deutschland anbetraf, die Position einer auf Vorsicht gegründeten Distanz. Der russische Imperialismus der Zaren spätestens seit Peter dem Großen bis zu den russischen Monarchen des ausgehenden 19. Jahrhunderts hatte die Randländer des über zweihundert Jahre lang an Umfang stets zunehmenden Riesenreichs nach und nach immer deutlicher bedroht. Der Druck auf die Türkei und die nordwestindischen Randgebiete entwickelte sich zum Dauerkonflikt zwischen dem britischen und dem russischen Reich, und das Vordringen Rußlands nach Polen, das in den Wiener Verträgen von 1815 sogar international abgesichert wurde, stellte nicht einmal (wie wir mit Blick auf das 20. Jahrhundert wissen) den Endpunkt des östlichen Expansionsdranges dar. Und diese Entwicklung wurde im späten 19. Jahrhundert zunehmend auch als Bedrohung für Deutschland empfunden. Die „Vitalität“ der „russischen Nationalität“, bemerkte Bismarck einmal im Jahr 1888, dürfe in keinem Fall ignoriert werden; die deutsche Politik sei daher stets gehalten, „sie wie eine elementarisch vorhandene Gefahr zu behandeln, gegen die wir Schutzdeiche unterhalten, die wir aber nicht aus der Welt schaffen können“.

Mittlerweile sind die Deutschen, nach mehr als einem Jahrhundert, um eine Fülle historischer Erfahrungen – darunter äußerst bitterer – reicher geworden. Es dürfte genügen, die Grenzen des Deutschen Reiches von 1914 mit denen des wiedervereinigten Deutschlands von 1990 zu vergleichen – mehr braucht wohl kaum gesagt zu werden. Nur eines sollte nicht vergessen werden: wem wir es zu verdanken haben, daß unser Land seit 1945 ein knappes Drittel seines angestammten Territoriums, den gesamten alten deutschen Osten, verloren hat – nämlich keinem anderen als dem russischen Alleinherrscher und politischen Nachfahren der Zaren: Josef Stalin. Hingegen gehörten der unerwartete Zusammenbruch und das politische Auseinanderfallen des großrussischen Sowjetimperiums um 1990 zu den uneingeschränkt positiven Erfahrungen der heute lebenden Generationen von Deutschen, denn hierdurch wurde wenigstens die Wiedervereinigung der politisch geteilten Nation ermöglicht. Daß man sich – nicht nur angesichts der zwischen 1945 und 1990 gemachten Erfahrungen – jetzt vorbehaltlos der westlichen (und nicht etwa der östlichen) Welt zugehörig fühlte, war eigentlich selbstverständlich und braucht auch nachträglich kaum näher begründet zu werden. 

Zu den neuesten Entwicklungen des frühen 21. Jahrhunderts gehört nun, daß der postsowjetische Phantomschmerz zu einer immer aggressiver sich gebärdenden russischen Außenpolitik geführt hat. Daran ist – auch das muß klar gesagt werden – die westliche Welt keineswegs vollkommen unschuldig, denn die west- und mitteleuropäischen Staaten haben es nach 1991 versäumt, ein gemeinsames europäisch-russisches Sicherheitssystem zu schaffen, das den Sicherheitsbedürfnissen beider Seiten Rechnung tragen konnte; die „Partnerschaft für den Frieden“ und der „Nato-Rußland-Rat“ aus den 1990er Jahren haben sich hierfür langfristig als politisch unzureichend erwiesen. 

Spätestens seit Putins aufsehenerregender Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2007, in der er den Beginn eines neuen west-östlichen Kalten Krieges ankündigte und damit eine unzweideutige Kampfansage an die westlichen Mächte formulierte, trat Rußland in die Phase einer neuen, eindeutig revisionistischen und neoimperialen Außenpolitik ein, die bis heute andauert und die gegenwärtige Friedensordnung in Europa immer stärker gefährdet. Diese Politik begann mit dem kurzzeitigen Kaukasuskrieg gegen Georgien im August 2008, der zur Abspaltung der beiden (international nicht anerkannten) Pseudorepubliken Abchasien und Südossetien führte, sie setzte sich 2014 und 2015 fort mit der Annexion der Krim und etwas später der faktischen Inbesitznahme des Gebiets um das Donezbecken in der Ostukraine. Und der militärische Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 bedeutet schließlich den vorläufigen Höhepunkt dieser Politik, deren Ende derzeit nicht abzusehen ist.

Die heutige Lage kann – immer mit Blick auf die Lebensinteressen Deutschlands – folgendermaßen umrissen werden: Der Versuch einer Politik dauerhafter Entspannung zwischen West und Ost ist mit dem Scheitern der – anfangs jedenfalls ernsthaft angestrebten – Etablierung eines für beide Seiten akzeptablen Sicherheitssystems zu Ende gegangen. In weltpolitischer Hinsicht steht das heutige Rußland tatsächlich besser da, als viele westliche Beobachter es wahrhaben wollen, denn die enge Interessengemeinschaft mit China und auch die vielfache diplomatische, wirtschaftliche und vermutlich auch waffentechnische Unterstützung durch die Volksrepublik sowie die Rückbindung an die global einflußreichen BRICS-Staaten (also neben China auch an Indien, Brasilien und Südafrika) hat Rußland eine vorher kaum denkbare Rückendeckung im Ukrainekonflikt gegeben.

Der vor nicht allzu langer Zeit noch einmal formulierte Anspruch der angelsächsisch geprägten Welt auf Weltdominanz, etwa in der „New Atlantic Charter“ des amerikanischen Präsidenten und des britischen Premierministers aus dem Jahr 2021, dürfte sich nach Lage der Dinge als ebenso unausführbar erweisen wie der entgegengesetzte Anspruch Chinas und seiner Verbündeten. Dem unverkennbaren demographischen, ökonomischen und geopolitischen Abwärtstrend der bisher global dominierenden westlichen Welt hat das „Reich der Mitte“, bisher jedenfalls, keinen international akzeptablen oder gar auf die übrige Welt attraktiv wirkenden globalpolitischen Gegenentwurf zu bieten. China als Weltzentrum, das alle anderen Mächte und Völker unter einem, nämlich „seinem Himmel“ zu beheimaten und damit zu dominieren trachtet, erscheint nicht nur westlichen Augen als eine wenig erfreuliche und schon gar nicht wünschbare Zukunftsvision.

Um eine wenigstens vorstellbare große internationale Konfrontation, die im schlimmsten Fall auf einen Dritten Weltkrieg hinausliefe, zu vermeiden, könnte sich als künftiges weltfriedenssicherndes Modell das austarierte Nebeneinander von politischen Großräumen erweisen – Großräume hier verstanden als Einflußsphären der Welt- oder Supermächte und ihrer Verbündeten, eventuell auch als fester Zusammenschluß von geopolitisch günstig positionierten und wirtschaftlich starken Staaten und Mächten mittlerer Ordnung. Gegenwärtig befinden sich die Dinge in weltpolitischer Hinsicht im Fluß, aber vieles spricht dafür, daß sich derzeit die beginnende Herausbildung einer solchen Großraumordnung in globaler Perspektive abzuzeichnen beginnt. Noch ist völlig unsicher, wie eine solche Ordnung im Detail aussehen wird; daß sich etwa Indien einem dominanten China unterordnen wird, dürfte kaum zu erwarten sein. Wie sich ein „westlicher“ Großraum gestalten wird – entweder als atlantisch-europäischer (unter Einbeziehung der USA und Kanadas) oder nur als west- und mitteleuropäischer – ist derzeit ebenfalls noch nicht abzusehen.

Sollte diese Lageanalyse zutreffen – und vieles spricht dafür –, dann ergibt sich mit Blick auf den derzeitigen Krieg in Osteuropa zwischen Rußland und der Ukraine folgende Schlußfolgerung: Rußland hat seinen Angriff auf die Ukraine vor allem deshalb begonnen, um den im Entstehen begriffenen künftigen eigenen Großraum (der vielleicht „nur“ ein russischer, eventuell auch ein russisch-chinesischer, also in diesem Sinne „eurasischer“ Großraum sein könnte) möglichst weit nach Mittelosteuropa hineinzuschieben, nach Möglichkeit hart an die Grenze der in der Nato verbündeten Nationen. Daraus ergibt sich im Umkehrschluß: Es muß das genuine Interesse der Europäer und – mit Blick auf die eigene geopolitische Lage – gerade auch der Deutschen sein, eine solche Grenzverschiebung nach Möglichkeit zu verhindern. Etwas anders gewendet: Massivste militärische Unterstützung der Ukraine ist unsererseits zuerst und vor allem deshalb geboten, um die Grenze zwischen einem künftig europäisch-westlich dominierten und einem russisch-östlich beherrschten Großraum möglichst weit nach Osten zu verschieben. Bittere historische Erfahrungen zeigen gerade den Deutschen: Je weiter die Grenze eines künftigen russischen Machtbereichs von Deutschland entfernt ist, desto sicherer wird die Position unseres Landes und desjenigen Großraums sein, dem Deutschland künftig angehören wird.

Wie der russisch-ukrainische Kampf ausgehen wird, ist derzeit nicht abzusehen. Wo die künftige Grenze zwischen Ost und West verlaufen wird, an den östlichen Außengrenzen der Nato, an der östlichen Grenze der Ukraine oder etwa entlang der gegenwärtigen Frontlinien zwischen Ukraine und Rußland, erscheint heute noch völlig ungewiß. Daß Deutschland und der Westen, dem wir historisch angehören, ein dringendes Interesse haben, diese Grenze nicht noch weiter in westlicher Richtung vordringen zu lassen, sondern sie, im Gegenteil, möglichst weit nach Osten zu verschieben, dürfte unbestreitbar sein. Denn um diese Grenze – und im Kern um nichts anderes – geht es in diesem Krieg! Und deshalb wissen wir auch, auf welcher Seite wir in diesem Konflikt stehen müssen.



Prof. Dr. Hans-Christof Kraus, Jahrgang 1958. Seit 2007 Inhaber des Lehrstuhls für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Passau. Zuletzt schrieb er auf dem Forum über das Erbe Otto von Bismarcks („Gegen Rußland eisern bleiben“, JF09/22).