© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 21/24 / 17. Mai 2024

Für die Meister des Barock prädestiniert
Kirchenmusik: Dagmar Lübking spielt die rekonstruierte Scherer-Bünting-Orgel zu St. Nicolai in Mölln
Jens Knorr

Der Name der Stadt Mölln erlangte zweifelhafte Berühmtheit des ersten rassistischen Brandanschlags im wiedervereinigten Deutschland wegen, der zum Anlaß der Lichterkettenkultur genommen wurde und dessen 30jähriges Jubiläum der politisch-mediale Komplex im vorvorigen Jahr begangen hat. Doch hat die Stadt im Kreis Herzogtum Lauenburg im Südosten Schleswig-Holsteins durchaus mehr zu bieten als bürgergesellschaftliche Schuldkultpflege, die aus sich selbst und diversen Fördertöpfen heraus stets sich erneuert. Da ist das angebliche Grab des Bauernsohns Till Eulenspiegel auf dem Kirchberg, da ist die Erinnerungsplatte an der Westseite des Turmes der Stadtpfarrkirche St. Nicolai mit dem Bildnis Tills, da ist die Kirche selbst, der Backsteinromanik bzw. -gotik zuzurechnen, dem Heiligen Nikolaus von Myra geweiht.

Neben spätgotischem Geläut und kultur- und kunsthistorisch gewiß bedeutsamem Inventar findet sich auch in dieser Kirche eines jener magischen Objekte, die immer wieder auch Atheisten in christliche Gotteshäuser ziehen: die Kirchenorgel. Und wie jede andere hat auch diese ihre Geschichte, die meistenteils Rekonstruktionsgeschichte ist, und ihren nur ihr eigenen Klang. 

An der Möllner Orgel haben die bedeutendsten Orgelbaumeister des 16. und 17. Jahrhunderts gebaut, wie Jacob Scherer (1555–1558), Hans Köster (1568), Friedrich Stellwagen (1637–1641). Den frühesten Hinweis auf die Existenz einer Orgel in der Kirche gibt ein Rentenbescheid für den Organisten aus dem Jahre 1436. Für seinen Orgelneubau hat Scherer Pfeifen aus dem Vorgängerbau – die ältesten bekannten gotischen Orgelpfeifen der norddeutschen Orgelbaukunst – übernommen, Christoph Julius Bünting mit einem neuen Gehäuse (1754–1766) der Orgel ihren spätbarocken Charakter gegeben.

Die Organistin arbeitet wichtige Stimmen klar heraus

Weitere Umbauten erfolgten im 19. und 20. Jahrhundert. In den Jahren 2018 bis 2022 wurde die Orgel von der Werkstatt Flentrop Orgelbouw, Zaandam, grundlegend restauriert und dabei die Disposition nach den Arbeiten von Bünting wiederhergestellt. Flentrop integrierte auch Pfeifen von Scherer, die für den Neubau der Orgel von St. Nicolai zu Kappeln an der Schlei keine Verwendung fanden und von der Kirchengemeinde Mölln erworben werden konnten. Jede der Veränderungen hat ihre Male in Bau und Klang der Orgel eingeschrieben. Heute verfügt die Scherer-Bünting-Orgel über 39 Register, die auf drei Manualen und Pedal verteilt sind. 

Muß sich der reisende Orgelvirtuose auf jede Orgel neu einstellen, so hat der mit seiner Orgel, seiner Kirche und, nicht zu vergessen, seiner Gemeinde verbundene Organist das Problem nicht. Und wer als Kirchen- oder Konzertbesucher Gelegenheit hat, mit dem ansässigen Organisten über seine Orgel ins Gespräch zu kommen, der könnte in seinem Verdacht bestärkt werden, daß vielleicht gar nicht Altar und Kanzel, sondern ihr Gegenüber das wahre Herzstück der Kirche sei und diese nur Klangraum jener. Der Organist erweist sich an der Orgel, der sie durch die Wahl der Stücke, ihre sinnvolle und angemessene Registrierung, sein Hand- und Fuß-Spiel zu voller Geltung bringt, wie die Stücke durch sie. Und selbstverständlich darf der Organist auch eine Organistin sein.

Dagmar Lübking studierte zunächst Musikwissenschaften und Altphilologie, bevor sie sich 1982 der Kirchenmusik zuwandte. Nach dem Examen in Frankfurt am Main setzte sie ihre Studien zwei Jahre lang in Basel und Wien fort. Sie wurde 1987 Organistin an der Alten Nikolaikirche und lehrte an Kirchenmusikschule und Musikhochschule in Frankfurt am Main. Seit 1998 ist die international gefragte Organistin, Cembalistin und Continuo-Spielerin auf ihrer Truhenorgel bei der Evangelisch-reformierten Kirche in Hamburg angestellt.

Ihr Spiel auf der rekonstruierten Scherer-Bünting-Orgel geht auf mehr aus, als lediglich Einsicht in die „Biographie“ der Orgel zu gewähren und vorzuführen, was da so alles für Register gezogen und geschoben werden können. Die Orgel scheint für die Literatur des 16. bis 18. Jahrhunderts prädestiniert, und Lübking hat sich für Meister des Barock entschieden. Dem Osterhymnus des Michael Praetorius weiß sie volles Werk zu geben, aber die letzte Dröhnung ist ihr nicht alles. Auf Heinrich Isaacs deutsches Lied „Innsbruck, ich muß dich lassen“ in der reich ornamentierten Bearbeitung von Sebastian Ochsenkun läßt sie die schlichte von Elias Nikolaus Ammerbach antworten. Es gibt viel zu entdecken auf der CD mit weiteren Stücken von Hassler, Abraham van den Kerckhoven, Christian Ritter, Georg Böhm und sogar mit der Chaconne aus Lullys Oper „Phaeton“ in einer Übertragung  für Orgel von Johann Christian Bach und Choralsätzen aus Johann Sebastian Bachs Orgelbüchlein.

Lübking arbeitet wichtige Stimmen klar heraus und führt den Hörer sicher durch alle labyrinthische Kontrapunktik. Sie läßt in Dieterich Buxtehudes Trauermusik ganz zarte, meditative Momente entstehen, die er dem Blasinstrument Orgel gar nicht zugetraut hätte, der Steuerfrau des Winddrucks doch schon. Mit der die CD beschließenden Pièce d’orgue BWV 572 hat der Virtuose und Experimentator Bach Mitwelt und Nachwelt in Staunen versetzt und die Organistin ihren Hörer auch.

Daß auf einer CD das spezifische Verhältnis von Orgel und Raum immer nur einigermaßen festgehalten werden kann, das ist keineswegs Interpretin und Produzenten anzulasten, sondern dem heutigen Entwicklungsstand der Tontechnik geschuldet. Wer den Klang der Scherer-Bünting-Orgel in dem Raum voll sich entfalten hören will, für den sie konzipiert worden ist, demselben und doch nicht demselben Raum, der muß sich nach Mölln in die St. Nicolai-Kirche bequemen, der muß zu Dagmar Lübking.


Die Scherer-Bünting-Orgel zu Mölln ES-DUR 2024 www.c2hamburg.de, wwww.orgelbauverein-moelln.de