© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 21/24 / 17. Mai 2024

Der Dilettant
Gedenkblatt: Zur Erinnerung an den sowjetischen Autor und Sänger Bulat Schalwowitsch Okudschawa
Florian Werner

Im Kulturbetrieb der Sowjetunion, wo hochseriöse Konservatorien, prestigeträchtige Wettbewerbe und offizielle Direktiven dafür sorgten, daß nichts dem Zufall überlassen blieb, mußte Bulat Okudschawa mit seiner Gitarre wie ein Stümper wirken. Drei Akkorde soll er beherrscht haben, zum Ende seines Lebens sieben. Seine Stimme war dünn und heiser – kein Vergleich zur künstlerischen Elite des Landes, die sich mit Namen wie denen des Pianisten Swjatoslaw Richter oder des Cellisten und Dirigenten Mstistlaw Rostropowitsch schmückte.

Diese waren das Aushängeschild einer sozialistischen Kultur, die weltweit Maßstäbe setzte. Die UdSSR schrieb Klassiker, zog Schachweltmeister groß und tanzte Ballett. Dabei entstand eine Kunst, die die „Massen“ gleichzeitig erzog und aussperrte. Kunst sollten nur Künstler machen, alle anderen waren verdammt, im Publikum zu sitzen.

Die vertonten Gedichte handeln von Einsamkeit und Trauer

So blieb die „proletarische Kultur“ in der Breite tatsächlich proletarisiert – unfrei, unmündig und verarmt. Dieser Umstand entschied auch darüber, wer mit den Mitteln der Kunst gegen die Einparteienherrschaft Einspruch erheben konnte. Nämlich nur die, die von ihr profitierten und es deshalb nicht taten. Erinnert sei hier an den letzten Satz von Schostakowitschs Fünfter, der wahlweise als Apotheose des Sozialismus oder aber als Anklage sozialistischer Barbarei gehört werden kann.

Der am 9. Mai vor hundert Jahren in Moskau geborene Okudschawa unterlief diese vertrackte Hochkultur, indem er „niedere Kunst“ schuf. Auf seiner Gitarre russischer Bauart – sieben statt sechs Saiten– spielte er Lieder, die jeder singen konnte. Die Gedichte, die er so vertonte, handeln von Einsamkeit und Trauer. Das unterschied seine Musik von der offiziellen, auf Optimismus getrimmten. Seine Stücke durften deshalb lange nicht aufgeführt werden. Sie kursierten als „Schallplatten-Samisdat“. Der georgisch-armenische Literat trat in Wohnzimmern auf, wurde als Geheimtip gehandelt. Er war nicht der einzige: Sein Kollege Wladimir Wyssozki sang mit seinen rauhen Soldatenliedern gegen den Pomp sowjetischer Militärparaden an.

Okudschwa hingegen dichtete zart. In „Das kleine Orchester der Hoffnung“ von 1963 heißt es: „Mit einem Mal erwacht/ undeutlich noch die Stimme der Trompeten/ mit Worten, die wie Falken in der Nacht/ von heißen Lippen fliegen.“ Der Gesang wandert erwartungsvoll in die Höhe, auch die Gitarre klettert immer weiter aufwärts, bis beide schließlich wieder beim Ausgangsakkord landen. „Eine Melodie, die wie ein Regenschauer/ Prasselnd durch das Volk wandert/ Kleines Orchester der Hoffnung/ Das durch die Liebe erklingt“, so der Refrain.

Daß Okudschawa so weich schreiben konnte, ist nicht selbstverständlich. Sein Vater, Kommunist und Passagier im berühmten „Lenin-Zug“, verfiel 1937 mit seinen Brüdern dem Verdikt, Trotzkist zu sein. Sie wurden erschossen. Okudschawas Mutter kam ins Arbeitslager.

1942 wurde der junge Okudschawa seinerseits einberufen und bei Kämpfen in der Nähe von Grosny verwundet. Seine Kriegserfahrungen machten ihn zum Pazifisten, die aus nächster Nähe erlebten Gefahren sozialistischer Kaderpolitik zum Dissidenten.

1981 faßte er seine Haltung in einem Vers zusammen: „Ich führe kein Buch über Verluste von einst/ Doch auch wenn ich meine Rache knapp bemesse/ Vergebe ich nicht, wenn ich an früher denke.“ Das machte ihn auch im Ausland für kritische Stimmen attraktiv. In der DDR übersetzten Wolf Biermann und Ekkehard Maaß Okudschawas Werke. Okudschawa starb 1997 auf einer Lesereise in einem Krankenhaus bei Paris.

Mit „Mein Jahrhundert“ ist im Lukas-Verlag pünktlich zum Jubiläum und mit einem Vorwort von Wolf Biermann eine neue Ausgabe seiner Poesie erschienen. Anhand der Gedichte wird klar, weshalb sich der Literat mit der verstimmten Gitarre erfolgreich mit sozialistischer Hegemonie à la Gorki und Aram Chatschaturjan messen konnte.

Okudschawa parierte die Ansprüche der Kaderkunst, indem er sie unterbot und verballhornte. Er sang schief und spielte falsch – das konnten die Absolventen des Moskauer Konservatoriums nicht. Damit löste er das Versprechen der „sozialistischen Massenkultur“ ein, die aus allen Menschen Künstler machen wollte. Was Okudschawa konnte, kann jeder – im guten Sinne.