© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 21/24 / 17. Mai 2024

Auf dem Rummelplatz geht’s rund
Kino I: „IF – Imaginäre Freunde“ ist ein fabelhafter kreativer Familienfilm, aber mit zweifelhafter Symbolik
Dietmar Mehrens

In der Tragikomödie „Mein Freund Harvey“ spielte James Stewart einen Mann, der felsenfest davon überzeugt ist, daß ihn ein lebensgroßer Hase auf Schritt und Tritt begleitet. „Harvey“ läuft im Fernsehen, als die zwölfjährige Bea (Cailey Fleming), die Heldin dieses phantasievollen Filmabenteuers, wegen eines Klinikaufenthalts ihres Vaters (gespielt von Regisseur John Krasinski selbst) gerade bei ihrer Oma eingezogen ist. Es ist ein netter kleiner Hinweis auf die Quelle der Inspiration zu Krasinskis Drehbuch.

Während die Zuschauer des Schwarzweißfilms von 1950 vergeblich darauf hoffen, den imaginierten Harvey irgendwann tatsächlich zu Gesicht zu bekommen, präsentiert Krasinski ihnen gleich einen ganzen Trupp von imaginären Freunden (abgekürzt IFs): Die insektenhafte Blossom und der „Monster AG“-taugliche lila Riese Blue sind die ersten, die Bea erblickt; es folgen – ohne Gewähr für Vollständigkeit – ein grünes Gallertwesen, ein sprechender Wassertropfen, der Bär Lewis, der Spion Cosmo, eine Zaubermaus, ein maskierter Superhund, ein Einhorn, ein Roboter, ein rotes Krokodil, ein rotes Gummibärchen, ein brennender Marshmellow und ein Zuckerwürfel im Wasserglas.

Farbenfrohe Komödie zum Träumen und Staunen

Bis die fiktiven Figuren erscheinen, dauert es eine Weile. Krasinski baut geschickt Spannung auf, läßt seine Heldin erst mal das neue Domizil inspizieren, sorgenvoll den Vater im Krankenhaus besuchen und nebenbei davon sprechen, daß sie ihre Mutter verloren hat. Das macht die Sorge um den Vater, der irgendeine Herzgeschichte behandeln lassen muß, natürlich um so größer. Am Abend sieht das Mädchen einen Schatten vorbeihuschen und folgt dem merkwürdigen Wesen ins oberste Stockwerk des Hauses, in dem die Großmutter ihre Wohnung hat. Dort gibt es eine Abstellkammer, die die IFs als Refugium nutzen. So lernt sie Blossom (deutsche Stimme: Christiane Paul), Blue (deutsche Stimme: Rick Kavanian) und Cal (Ryan Reynolds) kennen. Letzterer, von menschlicher Gestalt, kümmert sich darum, daß Trampeltier Blue sich anständig benimmt und auch sonst nichts aus dem Ruder läuft. Blue und Blossom leiden nämlich sehr darunter, daß die Kinder, deren Phantasie sie ihre Existenz verdanken, sie vergessen haben, nachdem sie älter und schließlich erwachsen geworden sind. Die IFs verschwinden, werden also für die Menschen unsichtbar, wenn diese sie vergessen.

Bea findet nun ihre Berufung in einer innovativen Form der Partnervermittlung: „Wir helfen IFs, neue Kinder zu finden!“ Dazu müssen die vielen verwaisten IFs allerdings erst mal ausfindig gemacht werden. Auf dem Rummelplatz von Coney Island stoßen Cal und Bea auf eine phantastische Fabelwelt voller verrückter IFs. Einzig der liebenswerte Fozziebär Lewis macht einen zurechnungsfähigen Eindruck. Von ihm erfährt Bea, was wohl auch als Kernbotschaft des Films gelten kann: „Nichts, was du liebst, kann je vergessen werden.“

Krasinski, dessen Kindheit von „E. T.“ und „Charlie und die Schokoladenfabrik“ geprägt wurde, hat sich mit „IF“ einen Kindheitstraum erfüllt und eine lang gehegte Idee endlich zu Leinwandleben erweckt. Der bisher vor allem durch den Horror-Zweiteiler „A Quiet Place“ (2018/2020) bekannt gewordene Regisseur zeigt mit dieser farbenfrohen Familienkomödie, daß er auch Kino für zarter Besaitete machen kann. Mit seinem berauschenden Fabelfigurenreigen und einer Wundertüte kreativer Einfälle lädt der Ehemann der Schauspielerin Emily Blunt zum Träumen und Staunen ein.

Einziger Wermutstropfen: Auch „IF“ huldigt hemmungslos dem schrillen New-Age-Kult. Unschwer läßt sich die gestörte Verbindung zwischen IFs und Menschen deuten als Sinnbild für die gestörte Verbindung des Individuums mit den universellen Energien, die laut Credo der „woken“ Esoteriker alles durchströmen. Das Regenbogenradar registrierte acht Ausschläge. Achtmal also wurde das Symbol der „Erwachten“ ins Szenenbild eingebaut. Kinostart ist am 16. Mai 2024