© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 21/24 / 17. Mai 2024

Dorn im Auge
Christian Dorn

Tatsächlich, es ist zum Davonlaufen! Geradezu leitmotivisch ist hier der ebenso belanglose wie austauschbare ESC-Beitrag des adipösen deutschen Sängers Isaak „Always On The Run“ – alles abgebrannt, ein wahrer „Pfundskerl“ aus Feuerland. Genauso grotesk der – wegen eines angeblich handgreiflichen Vorfalls – disqualifizierte Vortrag „Europapa“ des holländischen Künstlers Joost Klein, dessen Video wie eine Travestie der EUdämonia anmutete und der zugleich als heimlicher Favorit galt.

In New York war ich,

aus der DDR kommend, beim Anblick der ikonischen Architektur nicht überwältigt.

Unterdessen erinnert mich die Stimme des neuen Moderators an seinen Vorgänger, den legendären NDR-Mann Peter Urban, den ich seit dem Mauerfall einige Male gesprochen hatte – erstmals bei einem „Meet & Greet“ mit dem einstigen Talking-Heads-Kopf David Byrne in Hamburg, den ich bereits im Sommer 1992 im New Yorker Beacon Theatre erlebt hatte mit seinem neuen Album „Uh-oh“, als kulturelle Aneignung – hier afro-brasilianische und lateinamerikanische Song-Anleihen – noch nicht als Verbrechen geahndet wurde. Damals im drückend heißen Big Apple war ich der einzige, der schließlich den „Aufstand“ wagte, sprich: der tanzte. Schließlich befand ich mich im Land der unbegrenzten Möglichkeiten – balancierend zwischen „Psychokiller“ und „Girls on my Mind“. Und gleichzeitig frappiert, wenn ich vor dem Empire State Building oder dem World Trade Center stand – als jemand, der aus der DDR kam, erwartete ich jedesmal, vom Anblick überwältigt zu werden, und war daher jedesmal eigenartig enttäuscht, da ich nichts Besonderes beim Anblick der ikonischen Architektur empfand. Es war profan – und selbstverständlich urban.


Eines Abends wagte ich den Weg zum Limelight Dome, einer einstigen Episkopalkirche, die damals als der angesagteste Tanztempel galt. Trotz einer langen Schlange, lediglich in Jeans, sehr schlank und mit halblangen Haaren, womöglich etwas feminin wirkend, wurde ich unerwartet, an den anderen vorbei, hereingelassen – und war nach wenigen Augenblicken geschockt: Nicht nur wegen der giftgrün und violett leuchtenden Pillen, die gleich nach dem Eintritt im Flur feilgeboten wurden, sondern aufgrund des Bildes, das sich mir im egalisierten Altarraum bot: Der Boden der Kirchenschiffe voll mit Menschen, die zu einem sturen Rhythmus endlos auf der Stelle traten und scheinbar krankhaft herumzuckten, offenbar jeder für sich, zu einem infernalisch hämmernden metallischen Krach, der bald als Techno die Welt erobern sollte. Ausgerechnet hier konnte ich nun gar nicht tanzen, nicht einen einzigen Schritt – lediglich meine Augen richteten sich in die Höhe, wo vom Deckengwölbe Käfige baumelten, in denen sich einzelne junge Frauen befanden, dem Geschehen seltsam enthoben, aber dafür eingesperrt. Ich glaubte hier ernstlich, die psychischen Schäden des New Yorker Großstadtlebens vorgeführt zu bekommen. Wenige Tage später, der Rückflug, begrüßte mich – noch in New York –, als ich die KLM-Maschine bestieg, auf der Titelseite plötzlich der häßliche Deutsche aus Rostock-Lichtenhagen.