© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 21/24 / 17. Mai 2024

Mittel anderen Verwendungen entziehen
Geopolitik: Deutschlands gefährlicher Weg von der Marktwirtschaft in die Kriegswirtschaft
Dirk Meyer

Niedrig dosiert starten und langsam erhöhen. Was in der Cannabis-Schmerztherapie einer Toleranzentwicklung entgegenwirkt, könnte für die Debatte „Wir müssen kriegstüchtig werden“ (Verteidigungsminister Boris Pistorius seit 2023) nicht zwingend gelten. Im April äußerte Generalinspekteur Carsten Breuer auf der Bundespressekonferenz zum Nato-Manöver „Quadriga“: „Deutschland geht bei den Planungen der Nato all in.“ Man habe deutliche Schritte in Richtung Kriegstüchtigkeit gemacht.

Gleichzeitig erklärte sich Robert Habeck im Deutschlandfunk zum „Rüstungsindustrieminister“ und forderte, „wir müssen auch die Wehrindustrie in Deutschland höher skalieren“, um zukünftig als „first mover“ voranzugehen. Schlafwandelt Deutschland in die Kriegswirtschaft oder gar in den Krieg, wie es der australische Historiker Christopher Clark in „Die Schlafwandler: Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog“ (2012) beschreibt?

Zusätzliche Lasten einfach auf spätere Generationen verlagern?

Nach dem Überfall auf die Ukraine haben die 27 EU-Mitgliedstaaten ihre Verteidigungsausgaben von 240 auf 290 Milliarden Euro erhöht. In diesem Jahr wird Deutschland das Zwei-Prozent-Ziel der Wirtschaftsleistung knapp erreichen; Estland strebt drei und Polen gar vier Prozent an. Darüber hinaus wurden seit Februar 2022 international 353 Milliarden Euro an Militär-, Finanz-, Humanitär- und Flüchtlingshilfen für die Ukraine geleistet, davon die EU 87, die USA 70 und Deutschland 42 Milliarden Euro. Geld, das an anderer Stelle fehlt: Einschränkungen im privaten Konsum, unterlassene Modernisierung der Infrastruktur, Sozialabbau, ein geringerer Außenhandelsüberschuß oder höhere Schulden. Die für die Rüstungsproduktion eingesetzten Maschinen und Arbeitskräfte müssen anderen Verwendungen entzogen werden. Rein saldenmechanisch wäre das am wenigsten spürbar, wenn die Rüstungsgüter importiert (Abbau des Exportüberschusses) oder über Auslandsschulden finanziert würden. In beiden Fällen werden die Lasten jedoch auf spätere Generationen verlagert, die zukünftig auf ein geringeres Auslandsvermögen zugreifen können bzw. höhere Zins- und Tilgungszahlungen an das Ausland leisten müssen.

Doch tatsächlich sind die direkten Rüstungskosten und Ukraine-Hilfen nur die eine Seite. Denn Deutschland scheint auf dem Weg im Zuge des Ukrainekrieges in wichtigen Bereichen die Abkehr von marktwirtschaftlichen Prinzipien hin zu einer staatlichen Kommandowirtschaft zu vollziehen – und das wird teuer. Beispielhaft sind die Energiesanktionen gegen Rußland: Bereits zwei Tage vor Kriegsbeginn tat die Bundesregierung den ersten Schritt hin zu einer „Gasmangellage“, indem sie mit dem Stopp des Zertifizierungsverfahrens die Nord-Stream-2-Pipeline nicht an das Netz gehen ließ.

Ende 2022 trat ein EU-Importstopp für russisches Tanker-Öl in Kraft. Freiwillig verzichtete Deutschland auf russisches Pipeline-Öl – mit schwerwiegenden Konsequenzen für die Großraffinerie PCK Schwedt. Die von den G7-Ländern beschlossene Preisobergrenze von 60 Dollar pro Barrel für russisches Öl hat zu weiteren Verknappungen und einer Umlenkung zu Drittstaaten wie Indien und China geführt – teils auch zu Rücklieferungen nach Deutschland zu höheren Preisen.

Ähnlich preissteigernd wirkte der EU-Marktkorrekturmechanismus für Erdgas. Der beschlossene Höchstpreis steigerte die Nachfrage und senkte das Angebot – katastrophal für das von Energieimporten abhängige Deutschland. Bei einer gleichbleibenden Importquote und trotz eines Rückgangs des Primärenergieverbrauchs um sechs Prozent hat sich die Energieimportrechnung 2022 mit 131 Milliarden Euro gegenüber dem Vorjahr etwa verdoppelt.

Zunehmende Behinderung der internationalen Arbeitsteilung

Entsprechend sind 70 Milliarden Euro an Kaufkraft ins Ausland geflossen – hervorgerufen durch Sanktionen, deren Zielerreichung fraglich ist. Damit die Verbraucher die staatlichen Boykottmaßnahmen mittrugen, wurde die Gas- und Strompreisbremse durch eine sich „kümmernde“ Ampel beschlossen – bis Mitte 2023 wurden 52 Milliarden Euro ausgezahlt und die Mehrwertsteuer für den Gas- und Fernwärmeverbrauch auf sieben Prozent gesenkt. Das hat den Anreiz zum Energiesparen konterkariert und die nächste Haushaltskrise durch das Bundesverfassungsgerichtsurteil zum Verbot der Übertragung von Kreditermächtigungen für den Haushalt 2024 ausgelöst. Dies zeigt, wie eine Kommandowirtschaft gemäß der „Ölflecktheorie“ ungeahnte Folgeinterventionen nach sich zieht.

Ein weiterer Staatseingriff ist die „Resilienzwirtschaft“ (Widerstandsfähigkeit), zu der nach neuerer Begriffsdeutung auch die Rüstungswirtschaft zählen könnte. Sollte die EZB ihre Anforderungen an die „verantwortungsvolle Unternehmensführung“ (ESG) ändern, könnte sie demnächst auch Anleihen von Rüstungsunternehmen bevorzugt aufkaufen, was deren Kreditzinsen sinken ließe. Da der Wehrsektor eher der Hochtechnologie zuzuordnen ist, steigt die Konkurrenz um Fachkräfte im Auto- und Apparatebau sowie in der Elektronikfertigung. Diese Firmen könnten gezwungen sein, Produktion zu verlagern oder zu drosseln. Zugleich dürfte der technologische Fortschritt eine andere Richtung nehmen und über sogenannte Spin-offs zivile Anwendungen erfahren (Drohnentechnologie).

Sodann steht die „neue Industriepolitik“ im Zeichen der Abwendung von Kriegs- und Krisenfolgen, indem sie die Lieferketten funktionsfähig halten soll. Die eingesetzten staatlichen Mittel zur Industrieansiedlung (Chips/Mikroelektronik) und die Behinderung der internationalen Arbeitsteilung durch Zölle, Ausfuhrverbote und Kapitalverkehrsbeschränkungen erzeugen erhebliche Wachstumsverluste. Sie sind die staatlich veranlaßte Prämie in einer politisch und militärisch unsicheren Welt. Nicht nur Kritiker der Bundesregierung fragen inzwischen, ob eine Respektierung russischer Sicherheitsinteressen diese Wohlstandsverluste ersparen würde? Eine Lose-Lose-Situation, bei der beide Seiten verlieren, ist keine erstrebenswerte Zukunft.



Prof. Dr. Dirk Meyer lehrt Ökonomie an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.