© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 21/24 / 17. Mai 2024

Ein Schritt zu weit gen Süden
Rafah-Offensive: Je weiter die israelische Armee im Gazastreifen vorrückt, desto intensiver der Druck der Verbündeten
Marc Zoellner

Trotz des hohen Feiertags war keinem Israeli zum Feiern zumute. Verhalten und von wenigen oppositionellen Protesten begleitet, begann am Montag der Jom haAtzma’ut, der israelische Unabhängigkeitstag. Vor 76 Jahren, am 14. Mai 1948, hatte David Ben-Gurion, der erste Ministerpräsident Israels, in Tel Aviv die Unabhängigkeit seines Landes erklärt. Traditionell finden in Andenken an diesen historischen Moment Militärparaden mit Feuerwerk und Flugschauen statt. 

Am Vorabend des eigentlichen Jahrestages – der jüdische Tag beginnt mit der Abenddämmerung des Vortags – entzünden zwölf ausgewählte israelische Bürger auf dem Friedhof am Herzlberg in Jerusalem zwölf Kerzen, welche die zwölf Stämme Israels symbolisieren.

Doch nicht in diesem Jahr. Diesmal wurden sämtliche Militärparaden abgesagt. Israels Städte verständigten sich darauf, freiwillig auf Feuerwerke zu verzichten. Selbst die Kerzen brennen dieses Jahr nicht auf dem Herzlberg, sondern in israelischen Kibbuzen und Gemeinden im Grenzgebiet zum Gazastreifen. „Es ist schwierig für uns, während eines Krieges zu feiern, während 133 Geiseln noch immer von der Hamas festgehalten werden“, erklärte die für die Feierlichkeiten zuständige Verkehrsministerin Miri Regev auf einer Pressekonferenz. Grund ist vor allem die jüngste Offensive der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) im Süden des Gazastreifens.

US-Präsident Biden übt heftigen Druck auf Netanjahu aus 

Am 6. Mai rückten IDF-Soldaten auf die palästinensische Millionenstadt Rafah vor. Auch den nahegelegenen Grenzübergang nach Ägypten brachten die Soldaten unter ihre Kontrolle. Der katarische Nachrichtensender Al-Jazeera berichtete von Gefechten in den südöstlichen Stadtvierteln. „Es kommt zu einer allmählichen Ausweitung der Kämpfe, da die Militärpanzer immer tiefer vordringen“, so der Sender. Innerhalb von 24 Stunden zählten die IDF 50 Verwundete.

Mit dem Vordringen der israelischen Armee wächst die Sorge um einen Zusammenbruch des gesellschaftlichen Lebens im südlichen Gaza. Von den drei verbliebenen Kliniken der Stadt mußte das Abu Youssef al-Najjar-Klinikum bereits Anfang vergangener Woche geräumt werden. Diesen Montag forderten die IDF das Kuwaiti-Hospital auf, die Patienten zu evakuieren. Die medizinische Situation vor Ort sei „katastrophal“, erzählte ein palästinensischer Arzt der BBC. Für über eine Million Menschen sei kein einziger Dialyse- und Röntgenapparat mehr betriebsbereit. Satellitenbilder deuten auf Fluchtbewegungen gen Norden hin.

Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, der bereits innenpolitisch unter Druck steht, spürt nun sogar Gegenwind der eng verbündeten USA. Schon in der Vorwoche hatte Washington eine vereinbarte Lieferung von rund 3.500 ungelenkten Bomben an den Nahoststaat zurückgehalten und mit dem Stopp weiterer Lieferungen gedroht. „In Gaza sind durch diese Bomben und andere Angriffe auf Bevölkerungszentren Zivilisten getötet worden“, erklärte US-Präsident Joe Biden diesbezüglich dem Nachrichtensender CNN. Vor Beginn einer solchen Offensive, so Biden, habe Jerusalem zwingend einen humanitären Notfallplan zum Schutz der Zivilbevölkerung zu erstellen.

„Wir sind entschlossen,diese Aufgabe zu erfüllen“

Bidens Kritik an Netanjahu brachte diesem im US-Wahlkampf allerdings die geballte Kritik der oppositionellen Republikaner ein. Der US-Präsident stelle sich „auf die Seite dieser Terroristen, genau wie er sich auf die Seite der linksradikalen Mobs gestellt hat, die unsere Universitätsgelände übernommen haben“, schrieb Donald Trump. Dabei verwies er auf die teilweise gewalttätigen propalästinensischen Proteste an den US-Universitäten.

Wie die Ukraine dominiert auch Israel die außenpolitischen Debatten vor den kommenden US-Wahlen. Netanjahu, der selbst um seine politische Zukunft ringt, zeigte sich allerdings wenig verschreckt. Israel habe „ungefähr die Hälfte“ des Krieges gegen die Hamas abgeschlossen, verkündete Jerusalems Regierungschef anläßlich einer Veranstaltung zum Jom haZikaron, des israelischen Gedenktages der Gefallenen der IDF, der traditionell einen Tag vor dem Jom haAtzma’ut zelebriert wird. Allein in den letzten zwölf Monaten seien mit 766 Soldaten und 833 Zivilisten so viele Israelis wie zuletzt im Jom-Kippur-Krieg 1973 getötet worden; durch das von der Hamas verübte Massaker vom 7. Oktober 2023. Die mahnenden Worte seiner Rede dürften sich nicht nur an die Hamas, sondern auch an die zögerlichen Verbündeten Israels im Westen gerichtet haben: „Wir sind entschlossen, diese heilige Aufgabe zu erfüllen.“