Drei Wochen vor der richtungsweisenden EU-Wahl dominiert westlich des Rheins ein geschäftiger Ideenwettbewerb. Im Moment deutet alles darauf hin, daß das migrationsskeptische Rassemblement National (dt.: Nationale Versammlung, RN) in Frankreich als die mit Abstand stärkste Kraft aus dem EU-weiten Urnengang hervorgehen wird. Ihm werden bis zu 32 Prozent der Stimmen vorhergesagt. Der Partei Renaissance (dt.: Wiedergeburt) des Präsidenten Emmanuel Macron trauen die Institute hingegen nur den zweiten Platz zu, mit zuletzt 18 Prozent. Damit könnte das RN in der EU-Parlamentsfraktion Identität und Demokratie (ID) mit mindestens 30 Europaabgeordneten die italienische Lega als stärkste Kraft ablösen.
Ein ehemaliger Frontex-Chef steht auf Listenplatz drei
An diesem Rekord arbeitet das Rassemblement seit Jahren. Dessen Galionsfigur und einstige Chefin Marine Le Pen hatte über Jahre die politischen Standpunkte und das radikale Image entschärft, um bei der Mitte anzukommen. Die als „Entdämonisierung“ bekannte Strategie setzt auch ihr Nachfolger, Jordan Bardella, unverändert fort. „Wir sind nicht für den EU-Austritt Frankreichs, weder offen noch versteckt“, erklärte der EU-Abgeordnete und -Spitzenkandidat mit Blick auf die weiterhin skeptische Haltung der Partei gegenüber Brüssel.
Vermutlich fiele der Vorsprung noch eindeutiger aus, wenn das RN seit der Präsidentschaftswahl 2022 nicht mit schwergewichtiger Konkurrenz kämpfen müßte. Auf dem EU-Wahlzettel steht die noch weiter rechts stehende Partei Reconquête des populären jüdischen Publizisten Éric Zemmour. Sie könnte mit sieben Prozent ihr Ergebnis von vor zwei Jahren wieder erreichen. Pikanterweise wird deren Liste von der Nichte Le Pens, Marion Maréchal, angeführt. Sie hatte die Partei verlassen, weil deren Kurs für sie zu kompromißlerisch wurde. Gleiches galt für vier von 23 über die Listen des Rassemblement gewählte EU-Abgeordnete des RN, die Zemmour unterstützen wollten und in sein Lager wechselten.
Um die Dominanz innerhalb der Rechten zu verteidigen und eigene Akzente zu setzen, nutzt das Rassemblement zahlreiche Fernsehdebatten. Darunter in Frankreichs meistgesehenem Nachrichtensender BFMTV: Dort stellte sich Bardella vor wenigen Wochen der fast unbekannten Renaissance-Spitzenkandidatin und seiner EU-Parlamentskollegin Valérie Hayer zum ersten Mal. Bisher galt der 28jährige eher als ein Social-Media-Phänomen. Damit stellte der Schlagabtausch für ihn ein Wagnis dar.
Bardella versuchte, mit der Ablehnung einer EU-Mitgliedschaft der Ukraine zu punkten, die auf den „Ruin der französischen Landwirte“ hinauslaufen würde. Weiter warb er für ein zweistufiges Grenzsicherungssystem, das nach dem Vorbild der Flughafenkontrollen separate Schalter für EU-Bürger und Drittstaatler vorsieht.
Mit Blick auf Afrikas steigende Bevölkerung plädierte er zudem für den rigorosen Schutz der Außengrenzen – und gewann damit den ehemaligen Frontex-Chef, Fabrice Leggeri, für den Platz drei seiner EU-Wahlliste. Der Ex-Grenzschutzchef mußte 2022 unter anderem wegen der Vorwürfe, Migranten auf rechtswidrige Weise zurückgewiesen zu haben, seinen Platz räumen. Auch heute schlägt er sich mit einer Klage einer französischen Menschenrechtsorganisation wegen Beihilfe zu Folter und Verbrechen gegen die Menschlichkeit herum.
Sonst bemüht sich die Partei eher um ein freundliches Image – zumal der Wahlkampf nicht frei von persönlichen Angriffen ist. Wohl deshalb ließ sich Bardella bis zum 1. Mai – und einem Parteitag mit 2.000 Teilnehmern in Perpignan – Zeit, die ersten 35 Kandidaten seiner Liste offiziell bekanntzugeben. Trotz aller Kritik an den Kandidaten scheint er unbeeindruckt. So schadete es Ex-Minister Thierry Mariani nicht, daß er sich 2019 mit Wladimir Putin getroffen hatte. Er kam auf den sicheren Listenplatz neun. Und die algerienstämmige Autorin Malika Sorel konnte trotz Anbiederungsversuchen bei Macron den prestigeträchtigen Platz zwei erringen.
Beim Thema „Remigration“ will Le Pen gemäßigter agieren
Wesentlich schwerer wiegen dagegen die Vorwürfe gegen die europäischen Partner des RN, innerhalb wie außerhalb der ID-Fraktion. Süffisant zählte Valérie Hayer in der Fernsehdebatte mit Bardella das „Sündenregister“ der hochrangigen Teilnehmer des ID-Treffens in Florenz im Dezember 2023 auf. Dort habe sich der RN-Chef mit „Homophoben, Rassisten, Abtreibungsgegnern und Verschwörungstheoretikern“ fotografieren lassen.
Insbesondere die Fraktionsgemeinschaft mit der AfD wird kritisch beäugt. Der staatliche Radiosender France Inter und andere Medien berichteten, daß „die nationalistische deutsche Partei nicht aufhört, sich zu radikalisieren“ und vor allem die „Remigration“ gefordert würde. Die Vehemenz, mit der man sich an der AfD festbeißt, könnte eine schwere Hypothek für die erneute Bildung der ID-Fraktion werden. Marine Le Pen, die 2027 zum vierten Mal die Präsidentschaft anstreben will, versucht, sich über die Ablehnung der „Remigration“ im Sinne harter Rückführungen von Migranten von ihrem Widersacher Zemmour abzugrenzen. Daß das Wort in den beiden Sprachen nicht genau die gleichen Assoziationen weckt, tut sein Übriges.