© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 21/24 / 17. Mai 2024

Waffen, Wahn und Wirklichkeit
„Reichsbürger“-Prozeß: Aufwendiges Verfahren gegen mutmaßliche Umstürzler startet in Frankfurt / Spinner oder Terroristen?
Peter Freitag

Der etwas abgedroschene Begriff Mammutprozeß scheint hier keine Übertreibung zu sein. Insgesamt 27 Tatverdächtige werden angeklagt, die Akten der mehreren hundert Ermittler sollen über 400.000 Seiten umfassen. Es ist eines der aufwendigsten Verfahren, das je gegen eine mutmaßliche terroristische Vereinigung in Deutschland geführt wurde. Aufgrund der schieren Größe wird es auf drei Gerichte aufgeteilt: Der Prozeß in Stuttgart-Stammheim hat bereits Ende April begonnen, kommende Woche startet der vor dem Oberlandesgericht in Frankfurt am Main, Teil drei folgt in München. 

Auf der Anklagebank: die sogenannte „Reuß-Gruppe“, jene mutmaßlichen „Reichsbürger“ um den Frankfurter Geschäftsmann Heinrich XIII. Prinz Reuß. Ihm und seinen Mitstreitern wirft die Bundesanwaltschaft vor, spätestens ab August 2021 einen hochverräterischen Umsturz geplant und dafür „organisatorische, hierarchische und verwaltungsähnliche Strukturen mit einem sogenannten Rat als zentralem Gremium und einem militärischen Arm“ geschaffen zu haben. 

Dieser Teil der Organisation sollte im Zuge des Angriffs durch eine von außen eingreifende „Allianz“, einer Art Geheimbund von Regierungen, Nachrichtendiensten und Militärs verschiedener Staaten, die noch verbleibenden Institutionen und Repräsentanten der Bundesrepublik mit Waffen bekämpfen. Die Mitglieder der Vereinigung seien der Überzeugung gewesen, „ein zeitlich noch nicht feststehendes, tagesaktuelles Ereignis werde als Startsignal der ‘Allianz’ an sie zu werten sein, selbst aktiv zu werden und mit Gewalt gegen staatliche Stellen vorzugehen. 

Geplant habe man dazu auch das „gewaltsame Eindringen einer bewaffneten Gruppe in das Reichstagsgebäude mit dem Ziel, Abgeordnete, Kabinettsmitglieder sowie deren Mitarbeiter zu verhaften und abzuführen“, so der Verwurf des Generalbundesanwalts. Die Vorbereitungen dafür seien nach Überzeugung der Ermittler schon weit gediehen und konkret gewesen. Die daran Beteiligten hätten die Tötung zahlreicher Menschen billigend in Kauf genommen. Ihnen habe ein „massives Waffenarsenal“ mit „rund 380 Schußwaffen, 350 Hieb- und Stichwaffen, fast 500 weiteren Waffen und 148.000 Munitionsteilen“ zur Verfügung gestanden. Mehrere Mitglieder der Gruppierung sollen außerdem Kontakt zur russischen Regierung gesucht haben.

„Diese korrupten Gestalten müssen ausgemerzt werden“

Während in Stuttgart in erster Linie der „militärische Arm“ vor Gericht steht, müssen sich ab kommender Woche vor dem Frankfurter Staatsschutzsenat unter anderem Prinz Reuß und die ehemalige Berliner Bundestagsabgeordnete Birgit Malsack-Winkemann (AfD) verantworten. Der Adlige soll gemeinsam mit dem ebenfalls angeklagten Rüdiger von Pescatore als Rädelsführer agiert haben; der eine als Chef des „Rates“, der andere – ehemaliger Kommandeur eines Fallschirmjägerbataillons, jedoch wegen verschwundener Waffen aus der Bundeswehr entlassen – als Militärchef. Die frühere Richterin Malsack-Winkemann sei als „Justizministerin“ für die Zeit nach dem angeblich geplanten Umsturz auserkoren gewesen. 

Auffällig ist die von Beginn an offensive Medienpolitik der Ermittlungsbehörden. So waren bei den Verhaftungen im Dezember 2022 zahlreiche Reporter, Fotografen und Kamerateams vor Ort, die die entsprechenden Bilder und Schlagzeilen vom in letzter Minute verhinderten Putsch verbreiten konnten. Zudem sind Inhalte aus den Ermittlungsakten offenbar gezielt an die Presse durchgestochen worden, unter anderem Fotos von durchsuchten Privaträumen. Das Magazin Stern etwa druckte Aufnahmen der gehorteten Vorräte von Malsack-Winkemann ab, mit denen sich die ehemalige Bundestagsabgeordnete wohl auf den Zusammenbruch sämtlicher Versorgungswege oder auch einen angeblichen „Tag X“ vorbereiten wollte. 

Ein Ermittlungsverfahren dazu, woher diese Insider-Informationen stammen, hat es bisher nicht gegeben, zum Ärger von Verteidigern der Angeklagten, die ihre Mandanten damit einer massiven Vorverurteilung durch die veröffentlichte Meinung ausgesetzt sehen. Doch die Staatsanwälte sind offenbar der Überzeugung, daß der Kreis der Verdächtigen aufgrund der schieren Größe des Verfahrens ohnehin zu umfangreich wäre.  

Daß die 2021 aus dem Bundestag ausgeschiedene Malsack-Winkemann Mitgliedern des „militärischen Arms“ der Reuß-Gruppe bei einer Führung durch die Liegenschaften des Bundestags, zu denen sie als Ex-MdB immer noch Zutritt hatte, die unterirdischen Verbindungsgänge gezeigt und die Abläufe im Plenarsaal erläutert hatte, legen ihr die Ankläger als Unterstützung einer Terrorgruppe zur Last. Einer der Angeklagten, heißt es, soll dabei Fotos und Videos vom Paul-Löbe-Haus, den Büros und den Sitzungssälen gemacht haben. Im Prozeß wird nun zu klären sein, ob dies als Vorbereitung eines Putschs oder Anschlags gilt.

Mit den Hinweisen, daß Kanzler und Minister im Bundestag auf der Regierungsbank sitzen und wann das Parlament zu seinen Sitzungen zusammenkommt, verriet die Ex-Politikerin ihren Gesinnungsgenossen kein Geheimwissen. Das alles sind öffentlich leicht zugängliche Informationen. Und auch die unterirdischen Verbindungsgänge zwischen Reichstag und „Paul-Löbe-Haus“ sind alles andere als ein hermetisch abgeriegelter Bereich. Den Staatswanwälten gegenüber habe die frühere Politikerin eine „terroristische Zwecksetzung der Gruppierung“ bestritten. Daß eine bewaffnete Erstürmung des Reichstags geplant gewesen sei, will der Generalbundesanwalt indes auch durch Observationen und Telekommunikationsüberwachung der Gruppe sicher wissen. „Damit wir in Frieden und Einklang miteinander leben können, müssen diese korrupten Gestalten ausgemerzt werden“, wird in den Akten eine Nachricht des Prinzen Reuß zitiert. „Nicht nur ich warte sehnsüchtig“, soll Malsack-Winkemann einem anderen Mitstreiter gegenüber auf dessen Hinweis, daß es bald „vorbei“ sei, geantwortet haben.  

Nicht in Frankfurt, sondern in München, wo demnächst der dritte Prozeß des aufgeteilten Verfahrens startet, steht die Astrologin Ruth Hildegard Leiding vor Gericht, die ebenfalls eine Schlüsselrolle spielen dürfte. Aus dem Umfeld Malsack-Winkemanns heraus wurden Vorwürfe laut, die Wahrsagerin habe die damalige Richterin und Abgeordnete, in deren Bundestagsbüro sie zeitweilig angestellt war, geradezu manipuliert, von ihren „Beratungen“ abhängig gemacht und finanziell ausgenutzt. Zudem sei Leiding diejenige gewesen, welche die wesentlichen Akteure der Gruppierung überhaupt erst mit dem Frankfurter Unternehmer Reuß in Kontakt gebracht hatte. Mancher habe nichts getan, ohne vorher den Rat der Kartenlegerin einzuholen.

Ohne eine Blutspur hinter Gitter gewandert

Tatsächlich soll es zu Spannungen innerhalb der Gruppierung gekommen sein. Wie so oft ging es beim Streit unter anderem um Geld. So habe die Truppe um Prinz Reuß eine halbe Million Euro eingesammelt, hat die Bundesanwaltschaft ermittelt. Mindestens 138.710 Euro davon sollen nach Informationen des Stern an zwei Brüder in der Schweiz gegangen sein, die für die Gruppe zum einen Waffen besorgen sollten – was einer der Angeklagten bestreitet, eine andere Beschuldigte aber gegenüber der Polizei bestätigt haben soll; zum anderen habe man das Schweizer Brüderpaar mit der Suche nach bzw. Observation von Tunneln beauftragt, in denen angeblich massenweise Kinder mißbraucht würden. Doch ganz offensichtlich wurden Reuß und sein „militärischer Arm“ von den beiden Eidgenossen komplett zum Narren gehalten. Das sei irgendwann auch einem führenden Mitglied der Gruppe aufgefallen, das sich in internen Chats darüber beschwerte, die beiden Brüder hätten zwar jede Menge Geld erhalten, aber nichts geliefert. 

Auch innerhalb der Gruppe führte mancher die anderen offensichtlich ganz gewaltig an der Nase herum. So hatte sich Marco van H. als angeblicher Kontaktmann zur ominösen „Allianz“ hervorgetan, zu der er gute Kontakte habe, so seine Behauptung im internen Kreis. Schließlich sei er einst Elitesoldat beim Kommando Spezialkräfte (KSK) gewesen. Tatsächlich hatte der Mann einfach Wehrdienst geleistet – als Soldat in einer Transporteinheit. Ansonsten war er Medienberichten zufolge unter anderem wegen Betruges und Körperverletzung vorbestraft – und chronisch klamm. Im Oktober 2022, kurz vor seiner Festnahme, hätte er einen Offenbarungseid ablegen müssen. Nachdem der vermeintliche Emissär der „Allianz“ deren angeblich unmittelbar bevorstehendes Eingreifen seinen Mitstreitern immer wieder angekündigt, sie dann aber andauernd vertröstet habe, sei dem Rats-Chef der Geduldsfaden gerissen. Mit der Allianz sei man wohl „verarscht“ worden, soll sich Heinrich Prinz Reuß in einem Telefonat gegenüber seiner Mitangeklagten Malsack-Winkemann beschwert haben. 

Wahrscheinlich dürfte die Verteidigung einiger Angeklagter zudem vorbringen, daß die Gruppe bereits Wochen vor der Verhaftungswelle im Dezember 2022 zerfallen war. Trifft es zu, daß auf Betreiben des „Militärchefs“ Rüdiger von Pescatore mehrere Mitglieder des „Rates“, darunter die Ex-Abgeordnete und angebliche „Justizministerin“ in spe Malsack-Winkemann, ausgeschlossen worden waren? Das würde jenen Kritikern Argumente liefern, die meinen, der große Schlag gegen die Reichsbürger sei nicht erfolgt, weil diese unmittelbar davor standen, ihren Staatsstreichversuch in die Tat umzusetzen, sondern weil deren Umsturzphantasien schon wie ein Soufflé zusammengesunken und die mutmaßliche terroristische Vereinigung bald ohnehin von selbst zerfallen wäre. Ob der Riesenprozeß auch Licht ins Dunkel darüber bringt, ob – und wenn ja, wie nah Nachrichtendienste wie Verfassungsschutz und Militärischer Abschirmdienst an den mutmaßlichen Umstürzlern dran waren, ist ungewiß. 

Hatten die Behörden womöglich Vertrauenspersonen in der Gruppe? Welche Rolle spielte der Ex-Soldat und „Survival-Trainer“ Peter W., bei dem schon im April 2022 eine Durchsuchung stattgefunden hatte? Als gesichert gilt, daß W. einen Monat vor der großen Razzia und den Verhaftungen sich wenig konspirativ gegenüber einem ehemaligen Soldaten und zwei Frauen über Pläne, eine neue „Deutsche Armee“ aufzubauen und das bestehende System abzuschaffen geäußert hatte. Was er wohl nicht wußte: die drei waren Verdeckte Ermittler des Bundeskriminalamts.

Als wenig klandestin zu bewerten ist auch der Umstand zu bewerten, daß die verhinderten Verschwörer sämtlich eine Verschwiegenheitserklärung unterzeichnet hatten, in der beim Bruch der Vertraulichkeit die Todesstrafe drohen sollte. Praktisch für die ermittelnden Staatsanwälte und Polizisten, denen so quasi eine offizielle Mitgliederliste serviert wurde.  

Sitzen auf der Anklagebank also harmlose, weitgehend unfähige und sich selbst überschätzende Spinner – oder gefährliche, zu tödlicher Gewaltanwendung entschlossene und bewaffnete Terroristen? Auf diese etwas vereinfachte Frage könnte man herunterbrechen, worum es vor dem Oberlandesgericht in Frankfurt nun gehen wird. Dabei wird es vor allem darauf ankommen, wie die Richter das umfangreiche Aktenmaterial interpretieren. Denn eine Besonderheit weist dieses Verfahren im Unterschied zu früheren Terrorprozessen in der Bundesrepublik auf: Die als Rädelsführer angeklagten wanderten hinter Gitter, ohne eine Blutspur zu hinterlassen.