Herr Professor Meier, erstmals erzielt die AfD bei den 14- bis 29jährigen die größte Zustimmung. Vorübergehendes Phänomen oder dauerhafte Trendwende?
Markus Meier: Das kommt darauf an, wie die anderen Parteien nun darauf reagieren.
Nicht darauf, was die AfD tut?
Meier: Nicht in erster Linie, denn viele AfD-Wähler wenden sich ihr zu, weil sie sich zuvor von den anderen Parteien abgewandt haben. Wenn sich das verfestigt, kann aber irgendwann ein Milieu-Effekt eintreten: Also, daß „abgewanderte“, heimatlose Wähler dauerhaft ein neues politisches Milieu bilden. So wechselten etwa in den Achtzigern massenhaft Studierte von der SPD zu den Grünen. In Ostdeutschland ist diese Wanderung in vollem Gange.
Bei der vorigen Trendstudie „Jugend in Deutschland“ von 2022 führten noch die Grünen mit 27 Prozent. Nun haben diese 9 Prozent eingebüßt und die Spitzenposition an die AfD verloren, die um 13 Prozent auf 22 Prozent zugelegt hat. Woher kommt der Wandel?
Meier: Der große spanische Schriftsteller und Philosoph Fernando Savater hat vor kurzem, anläßlich seines Rausschmisses bei seiner Stammzeitung El País, gesagt, er sei nicht mehr bereit, die Rechten immer an ihren Taten, die Linken jedoch nur an ihren Ideen zu messen – gerade auch nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts in Rußland und China. Es scheint, daß die Jugend – die ja normalerweise tatsächlich eher empfänglich für auch abstruse „Ideen“ ist – die politische Linke, insbesondere die Grünen, jetzt ebenfalls an ihren Taten zu messen beginnt. Und das bekommt den Grünen nicht.
Inwiefern?
Meier: Thomas Mann sagt, die Deutschen hätten ein „ironisches Verhältnis zur Realität“ – in diesem Sinne sind die Grünen sehr deutsch. Etwa in der Energie-, Außen- und Wirtschaftspolitik, aber auch in der Bildungs- und Forschungspolitik können sie tatsächlich die Jugend, vor allem aber junge Männer, nicht mehr überzeugen. Und Minderheitenselbstbestimmungsthemen, wie einmal im Jahr das Geschlecht zu wechseln, verfangen bei den Jungen nicht. Zudem könnte diese auch die dezidiert feministische Ausrichtung abstoßen, da sie ja explizit ihre Rechte verletzt – und auch verletzen soll.
„Polarisierung zwischen Jungen und Alten, wie es sie so bisher nicht gab“
Aber über die Hälfte der Jugendlichen sind doch Frauen.
Meier: Den Grünen geht es nicht um Frauen, sondern um Feministen und Feministinnen – das ist nicht das gleiche. Die einzigen Frauen, die sinnvollerweise in der Gesellschaft besonders vorteilhaft behandelt werden müßten, sind Mütter, da sie – gemeinsam mit Vätern – unglaublich viel in deren nachhaltige Zukunft investieren. Mütter qualifizieren sich damit, vom Gleichheitsgebot ausgenommen zu werden. Die Grünen reklamieren aber pauschal für ihre weibliche Klientel Privilegien, für die diese sich nicht qualifiziert haben (müssen). Offensichtlich haben viele Frauen keinerlei Interesse am vom Feminismus propagierten Kampf gegen den Mann, sondern wünschen sich eine harmonische Beziehung. In Zeiten aber, in denen der Staat immer neue Abgaben fordert, empfinden viele Familien das politische Gegeneinanderausspielen der Geschlechter als abstoßend und sind wohl schon froh, wenn Mann und Frau gemeinsam in ihrem „Kleinunternehmen Familie“ die horrenden Energie- und Lebenshaltungskosten bezahlen, ausreichende Bildung für ihre Kinder sicherstellen oder ohne Angst auch abends nach Hause gehen können. Konkret: Vermutlich fände eine „Familienquote“ für Mütter und Väter viel mehr Akzeptanz und wäre auch viel besser zu legitimieren, als pauschal „Frauen“ durch Quoten zu fördern. Sinnvoller wäre, „Eltern“ zu fördern, die die Doppelbelastung Kinder und Karriere gemeinsam für die Gesellschaft schultern. Kinderlose Frauen (und Männer) gingen dann zwar leer aus, aber gerechter wäre es allemal, denn es würde vor allem jungen Frauen und Männern etwas von dem zurückgeben, was sie der Gesellschaft gegeben haben und keinen künstlichen Interessengegensatz Mann/Frau aufbauen. Die Idee liegt jedenfalls politisch nahe, vielleicht greift sie ja jemand auf.
Sind es heute also andere Interessengegensätze als noch vor einigen Jahren, die die Gesellschaft durchziehen?
Meier: Definitiv! Soziale Gegensätze haben in einer Phase der Hochkonjunktur, wie wir sie in den 2010er Jahren erlebt haben, naturgemäß viel politischen Sprengstoff eingebüßt. Für die SPD ist das inzwischen existenzbedrohend. Die Massenarbeitslosigkeit ist schon vor einiger Zeit in einen dramatischen Arbeitskräftemangel umgeschlagen. Man versucht dem – eher improvisiert und ohne klares Konzept – mit Masseneinwanderung beizukommen. Einwände gegen dieses Modell werden zu Staatsfeindschaft erklärt und schnelle Einbürgerung als Lösung propagiert. Faktisch wird die unkontrollierte Einwanderung aber vom Souverän auch als realer oder potentieller Gegensatz zum eigenen Lebensstil wahrgenommen. Der Arbeitskräftemangel ist ja nur eines der Probleme, hinter dem die völlige Vergreisung unserer Bevölkerung steht. Daß die jetzt Jungen einen Lebensentwurf vorgezeichnet finden, in dem sie ihre Energie vor allem für die Alimentierung der Alten werden aufwenden müssen, schafft eine Polarisierung, die es so bisher nicht gab. Dazu kommt, daß es vor allem alte Frauen sein werden, die die Jungen alimentieren müssen, da deren Lebenserwartung sechs Jahre über der von Männern liegt, Männer aber als Leistungsträger viel mehr Steuern abführen. Fazit: Ungesteuerte Migration, Verlust der gewohnten, sicheren Lebensumwelt, rapide Überalterung und immer stärkere Gewichtung von Frauen im politischen Prozeß, dazu der Ukraine-Krieg sowie selbstverschuldete, sich verdüsternde wirtschaftliche Aussichten – all das sind Themen, die die Jungen beunruhigen und bei denen sie alleingelassen werden.
Aber ist es wirklich die AfD, die vielen als rückwärtsgewandt gilt, die diese Themen aufgreifen kann?
Meier: Vermutlich reicht es den Jungen, vor allem den jungen Männern, schon, daß sie keine Politik explizit gegen diese machen will. Etwa in Form immer neuer Schulden, die man ihnen für die Zukunft hinterläßt oder von Frauenquoten, die die Leistungsbereitschaft junger Männer unterminiert. Junge Männer wollen offensichtlich, daß sich bei diesen Themen, die sie besonders betreffen, etwas tut.
Das klingt sehr materialistisch. Ist es aber nicht der Idealismus, der Jugendliche in der Politik anzieht?
Meier: Idealismus muß man sich leisten können! Erinnern Sie sich an die Greta-Prozessionen vor der Pandemie: Die tonangebenden Mädchen und jungen Frauen kamen vorzugsweise aus reichen oder sehr reichen Haushalten, einige waren Millionärstöchter. Denen fällt der Einstieg in den Klimajetset leichter als dem Jungen aus einem Angestelltenhaushalt, der ja in diesen idealistischen Inszenierungen auch gar nicht mehr vorgesehen ist. Und schaut man genau hin, wird schnell klar, daß hinter der Maske der Idealistin eigentlich sehr selbst- und sendungsbewußte Macherinnen stecken. Fällt der Jet zur Uno-Vollversammlung aus, chartert man eben eine Hochsee-Yacht, um da mal ein „How dare you!“ in den Raum zu stellen. Solche Inszenierungen haben aber mit der Lebenswirklichkeit von vielen Jungen nichts zu tun, sie versprechen sich davon auch nichts.
Aber die linken Themen von damals scheinen doch auch heute noch aktuell zu sein.
Meier: Jein. Die „linken“ Themen damals – Atomkraft, Umwelt, Frieden, Frauen, Minderheiten, allgemeine Weltrettung durch mehr Staat – spielten viel stärker vor dem Hintergrund des verlorenen Weltkrieges, des Kalten Krieges und drückender Arbeitslosigkeit. Damit können besonders die Grünen bei ihrer Stammklientel bis heute punkten, die diesem Markenkern vertraut: Nazis raus! Atomkraft nein danke! Minderheiten vereinnahmen, Quoten für dieses und jenes, mehr gutdotierte Stellen für Studierte beim Staat. Angesichts der Realität scheint das vielen Jungen aber völlig dysfunktional: Der Atomausstieg ist sinnlos und kostet Milliarden, Quoten verletzen den Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes und demotivieren die Guten, insbesondere junge Männer. Eine sichere Altersversorgung ist ohne (eigene oder fremde) Kinder fast unmöglich. Das Wohlergehen von Minderheiten und Migranten darf nicht zur Geringschätzung der Mehrheit führen – schon gar nicht, wenn diese alimentiert sind.
Ist „links“ künftig dann noch gleich „progressiv“?
Meier: Progressiv ist, wer gegenwärtige Probleme benennt und unvoreingenommen nach Lösungen für die Zukunft sucht. Dabei müssen Erfahrung und Tradition kein schlechter Ratgeber sein, aber auch rationale Analyse und politischer Mut sind hilfreich. Offensichtlich trauen viele Jugendliche konservativen Parteien diese Art „vorsichtigen Fortschreitens“ inzwischen eher zu als klassischen „Progressiven“ mit ihren Themen von vor fünfzig oder hundert Jahren. Ob das allerdings anhält, wird die Zukunft zeigen.
Also ist der Grund, daß die Zustimmung für die AfD in der Trendstudie höher ausfällt als beim Bevölkerungsdurchschnitt, daß junge Menschen politische Themen anders wahrnehmen als Ältere?
Meier: Ja. Beispiel Migration: Ältere Menschen leben oft eher in ruhigen, auch reicheren Randbezirken, gehen weniger aus, suchen insgesamt weniger Kontakte. Ihre tatsächlichen Kontakte zu Migranten sind oft professionell und konfliktarm, etwa in Form von Ärzten, Arzt- und Krankenschwestern oder Altenpflegern. Zudem müssen sich Ältere durch mögliche negative Entwicklungen der Gesellschaft weniger bedroht fühlen, da sie diese in zehn oder zwanzig Jahren sowieso nicht mehr erleben werden, was insbesondere für kinderlose Alte gilt. Und je älter man wird, um so weniger Kraft hat man auch, sich noch mit Problemen der Zukunft auseinanderzusetzen.
Als Sorgenthema Nummer eins weist die Trendstudie allerdings nicht die Einwanderung aus, sondern die Angst um die eigene wirtschaftliche Zukunft.
Meier: Da gilt selbstverständlich das gleiche, denn für niemanden ist der Lebensweg so ungewiß wie für junge Leute, während ältere Menschen meist Sicherheiten haben, wie einen Arbeitsplatz, Vermögen, vielleicht ein Haus.
Ende Februar sorgte eine andere Studie für Aufmerksamkeit, laut der es „seit 1953 noch nie so große Geschlechternterschiede bei Wahlen gab wie 2021 bei den 18- bis 24jährigen“: Frauen wählen demnach zunehmend links, Männer zunehmend rechts.
Meier: Das wundert mich nicht, machen linke Parteien nach der „Rational Choice“-Theorie – laut der Wähler individuell für die Partei stimmen, die ihnen konkret das für sie Vorteilhafteste anbietet – Männern ja auch kein attraktives Angebot. Denn linke Parteien haben die klare Tendenz, Männer abzuwerten – das reicht ja inzwischen sogar bis in die Union!
Also ist die AfD die Partei der Männer?
Meier: Eigentlich nicht, denn sie macht diesen kein spezielles Angebot.
Sie hat zum Beispiel ein konservatives Familienbild.
Meier: Daß der Staat Ehe und Familie schützt und ein Hauptverdiener für das Auskommen der Familie sorgen konnte, war früher ein konservatives Versprechen – das vor allem Frauen favorisierten. Konrad Adenauer hat so, vor allem mit weiblichen Stimmen, seine Endlosregentschaft gesichert. Inzwischen aber garantiert der Staat Frauen diese Eheprivilegien auch ohne Ehe, folglich wählen sie links. Seit der Wiedervereinigung spielt auch die hohe Berufstätigkeit und Scheidungsfreudigkeit in der Ex-DDR eine Rolle, die sich auf die alte Bundesrepublik auswirkt. Daß Frauen links wählen, ist also „Rational Choice“, da es ihren Interessen entspricht: Eheprivilegien auch nach oder außerhalb der Ehe. Möglich, daß nicht alle Männer damit gut fahren. Es wäre also klug, die so entstandene Leerstelle in der Familienpolitik zu besetzen und Männern, besonders jungen Männern, hier proaktiv ein Angebot zu machen.
„Gesellschaftliche Produktion und Reproduktion in Balance bringen“
Aber wäre ein solches politisches Angebot nicht quasi männlicher „Feminismus“ und würde „das politische Gegeneinanderausspielen der Geschlechter“, das Sie vorhin kritisiert haben, nur noch weiter befördern?
Meier: Eine ausgesprochen komplexe Frage, über die man viele Abhandlungen schreiben könnte: Wir haben in den letzten Dekaden grob gesagt eine Öffnung des traditionell männlichen Bereichs „Lohnarbeit“ für Frauen erlebt – aber keine entsprechenden Entwicklungen im traditionell weiblichen Bereich „Familie“ bisher zustande gebracht. Männer haben ihre alte Rolle verloren und keine neue gefunden. Das führt auf der Mikroebene im Konfliktfall zu viel Ohnmachtserfahrungen und Wut, so daß viel zu viele junge Männer inzwischen um das Thema „Familie“ einen Riesenbogen machen, da es sich ihnen als völlig unkalkulierbares emotionales und finanzielles Lebensrisiko darstellt. Auf der Makroebene führt diese Schieflage dazu, daß wir uns als Nation in unvorstellbarer Geschwindigkeit dezimieren. Eine Alternative wäre, gesellschaftliche Produktion und Reproduktion wieder in eine neue Balance zu bringen. Männer und Frauen sind reproduktiv komplementäre Wesen, keine konfliktiven. Dem wird man mit Feminismus sicherlich nicht beikommen können, da er mehr Problem als Lösung ist.
Droht wegen der in der Studie festgestellten politischen Divergenz, daß Männer und Frauen künftig noch schwieriger zusammenfinden. Folgt auf den Klassenkampf künftig der politische Geschlechterkampf?
Meier: Männer müssen sich heute tatsächlich zwischen der traditionellen ritterlich-beschützenden und der modernen gleichberechtigt-kompetitiven Rolle erstmal neu orientieren – etwa wenn es um Karriereinteressen geht. Hier wird von ihnen gefordert, Frauen „ritterlich“ den Vortritt zu lassen, während man gleichzeitig die traditionell-ritterliche Rolle lächerlich macht. Das ist nicht konsistent und macht Männer auch wütend. Ansonsten aber sehe ich das ganz entspannt, denn in der Regel machen Männer und Frauen ihre Partnerwahl nicht von politischen, sondern von tief in uns eingeschriebenen evolutionären Faktoren abhängig. Die meisten Männer lieben Frauen, und die meisten Frauen sind damit zufrieden. Ich vermute, das wird auch so bleiben.
Prof. Dr. Markus Meier: Der Pädagoge und emeritierte Erziehungswissenschaftler, geboren 1965 in Detmold, lehrte an der privaten Universität Externado in Bogotá, Kolumbien. 2015 gelang ihm und der Soziologin Heike Diefenbach, in einer Analyse für das Fachmagazin Gender & Education dem OECD-Gender Report wissenschaftliche Verzerrung und Implementierung intuitiver Gender-Konzepte nachzuweisen. 2015 erschien sein Buch „Lernen und Geschlecht heute. Zur Logik der Geschlechterdichotomie in edukativen Kontexten“.