© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 20/24 / 10. Mai 2024

Hinter den sieben Bergen
Youtube-Kanäle feiern das einfache ländliche Leben an entlegenen Plätzen und erzielen Millionen Klicks
Ludger Bisping

Das Wohlstandsleben sorgt für Verdruß. Aber es wird an Abhilfe gegen den Frust gearbeitet. Internetvideos, die das Leben in entlegenen Bergdörfern, im Wald oder abgelegenen Provinzen zeigen, generieren zweistellige Millionen-Klicks.

Das ist die moderne „Symphonie der Großstadt“: Heizgesetze, Vorschriften zur Gartengestaltung, ideologischer Kreuzzug gegen individuelle Mobilität. Von Müll, Gewalt, Lärm und Schmierereien gar nicht zu reden. Die Verwahrlosung kann die scheußliche Architektur der Zeit kaum verschlimmern. Dazu Konsumkultur, hysterische Pseudokonflikte und Luxusproblemchen. Die einzig existentielle Herausforderung ist das ständige Risiko, daß „ein Mann“ wegen „psychischer Probleme“ mit dem Messer Amok läuft. Das Leben im urbanen Raum ist nicht gerade idyllisch.

Kein Wunder, daß sich Menschen nach Ursprünglichkeit, Identität und Verortung sehnen. Vom bindungslosen Job-Nomaden („Anywhere“) zurück zur Schollenverbundenheit („Somewhere“). Das ist offenbar ein natürlicher Abwehrreflex gegen globalistische Gesellschaftsfragmentierung. Die Industrie hat diese Sehnsucht längst erspürt und mit „Regional“- und „Heimat“-Etiketten auf ihren Produkten bedient.

Die Suche nach authentischem Leben „down to earth“ führt für viele ins Internet. Auf Youtube berichten einfache Menschen aus entlegenen Winkeln der Welt von ihrem Alltag, in dem es nicht um Gender-Gedöns und Minderheiten-Wehwehchen geht, sondern um Holzhacken und Brotbacken. Wo man nicht mit Altmetall im Gesicht und Kritzeleien auf der Haut rumläuft, sondern in praktischer und traditioneller Tracht. Wo man aber eben auch nicht fürchten muß, in der U-Bahn angefallen zu werden. Die Kanäle haben teils über einer Million Abonnenten. Die Videos erreichen Millionen-Klickzahlen, wie beim Youtube-Account „Faraway Village Family“, auf dem es hauptsächlich um opulente aserbaidschanische Rezepte geht wie einen ganzen im Erdloch zubereiteten Rinderschenkel.

Die sibirische Influencerin Kiun B. berichtet in ihrer Videoserie über das Leben in Jakutsk, der kältesten Stadt der Welt. Wegen des Dauerfrostes ist es unmöglich, hier eine Kanalisation anzulegen. Kiun erklärt, wie man bei minus 70 Grad Außentemperatur Wäsche trocknet oder welchen Freizeit­aktivitäten man nachgehen kann. Ihre Kurzfilme darüber erreichen bis zu unfaßbare 46 Millionen Aufrufe.

Die drei fröhlichen Mädels vom „Trio Mandili“ aus dem georgischen Chewsurien performen volkstümliche Lieder mit der Panduri, der traditionellen Laute. Nebenbei zeigen ihre Musikclips auch das dörfliche Leben. So wird die Großmutter mit ihrer Schubkarre voller Brennholz für den Küchenofen auf der Straße spontan in einen Volkstanz einbezogen, was der Seniorin sichtbar Spaß macht. Das Terzett vertrat Georgien bereits beim ESC. Fans im zweistelligen Millionenbereich schauen sich die Videos an.

Auf dem Kanal „Village Life in Mountains“ dreht sich alles um das Leben von Menschen, die in einsamen Bergregionen leben und dort von Landwirtschaft und Handwerk existieren. Sie stellen ihre Kultur, ihre Traditionen und Bräuche sowie lokale Gerichte und Rezepte vor. So zeigt eine rüstige 96jährige aus einem armseligen Karpatendörflein, wie sie Kräuter sammelt, aus denen sie einen Sud kocht, der den jungen Frauen hilft, schwanger zu werden. Ob sie weiß, daß sie Millionen Zuschauer hat?

„Food Around The World“ ist die etwas andere Kochshow: Hier lernt das Publikum zum Beispiel von Katya, wie ein ganzes Lamm im selbstgemauerten Ofen zur Köstlichkeit für die ganze Gemeinschaft des einsamen Bergdorfes in der Ukraine wird. Katya zeigt außerdem, wie man eine Ente schlachtet oder Birkensaft gewinnt, wenn man keinen Fastfood-Lieferdienst mit dem Handy herbeirufen kann. Die Familie Ulengov aus dem Kaukasus portraitiert die Bewohner winziger Walddörfer, die in primitiven Zuständen hausen, aber einen entspannten Eindruck machen. Als alle Nachbarn im Winter in die Stadt fahren, bleibt eine alte Frau allein zurück und schlägt sich patent über die Runden. Auch hier begeistert das Leben der Anderen zivilisationsmüde Online-Zaungäste im achtstelligen Bereich. 

Doch keine Sorge: Ihre Regierung arbeitet mit Hochdruck daran, die hochzivilisierte Industrienation Bundesrepublik Deutschland durch Wohlstandsschmelze, Abbruch der Infrastruktur, Barbaren-Import und Dekultivierung zu einem Ort zu machen, in dem auch Sie bald tägliche Basistätigkeiten wie Wasserholen und Feuermachen wieder erleben können.