© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 20/24 / 10. Mai 2024

Umwelt
Der Bär als Bratwurst
Paul Leonhard

Als 1914 der Ederstausee eingeweiht wurde, war er nur aus Karl-May-Romanen bekannt. Doch 20 Jahre später setzte ein preußischer Forstmeister mit Genehmigung des Reichsjägermeisters Hermann Göring zwei Pärchen im dortigen Kellerwald-Revier Asel aus. Und beim Zusammenbruch 1945 entwischten in Kurhessen und im brandenburgischen Strausberg Exemplare aus Pelztierfarmen – und im verborgenen begann der Siegeszug von Procyon lotor, dem Waschbär: Zunächst in Nordhessen, Westfalen und östlich von Berlin. Inzwischen ist der nordamerikanische Invasor allenfalls in Hamburg und Bayern ein seltener Zeitgenosse. Und der possierliche Kleinbär entpuppte sich als Gefahr für heimische Amphibien, Reptilien und Vögel. Seit 1954 wird er in Hessen und seit 1973 bundesweit bejagt. Dennoch wird der Bestand heute auf ein bis zwei Millionen geschätzt – bei einer Abschußrate von über 200.000.

In Kassel ist der Zuwanderer seit 60 Jahren Mitbewohner und längst ein Fall für städtische Waschbärjäger.

In Kassel, nur 35 Kilometer vom Edersee entfernt, sind Waschbären seit 60 Jahren Mitbewohner – und längst lästig sowie ein Fall für städtische Waschbärjäger: Denn die Tiere plündern nicht nur Mülltonnen, Gärten und Kühlschränke, sondern richten mit ihren geschickten Pfoten auch Schäden an Dächern und Regenrinnen an. Was aber mit den jährlich 30.000 in Hessen erlegten Waschbären tun? Ihr Fell wird zu Kleidung. Aber ist sein Fleisch nicht „zu süß für den Kochtopf?“ fragte kürzlich die „Hessenschau“ und bekam von Fleischern und Wildhändlern skeptische Antworten. Der Tagesspiegel titelte optimistischer: „Invasive Waschbären – Warum nicht einfach auf den Grill mit ihnen?“ Denn Berlin hat Kassel als deutsche Waschbär-Metropole abgelöst. Und nicht nur einige Hauptstädter wollen es wie die Amerikaner machen: sie verzehren. Auf der „Grünen Woche“ gab es 2023 und 2024 die Gelegenheit dazu. Denn der Jäger Michael Reiß aus Kade (Jerichower Land), 80 Kilometer westlich von Berlin gelegen, bietet nicht nur Reh und Wildschwein in seinem Hofladen an, sondern auch Würste und Buletten aus Waschbärfleisch – selbstverständlich trichinenfrei.