© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 20/24 / 10. Mai 2024

In der Kunst Ahnungen von Unsterblichkeit erkennen
Der Theologe und Psychiater Manfred Lütz geht anhand berühmter Kunstwerke der Stadt Rom auf Suche nach dem Sinn des Lebens
Felix Dirsch

Die Frage nach dem Sinn des Lebens erinnert an das berühmte Buch mit sieben Siegeln. In der Regel versucht der Einzelne seinen subjektiven Horizont in Einklang zu bringen mit dem Großen und Ganzen des Transzendenten, sei es in Form göttlich-kosmischer Erfahrungen, sei es in Form einer Weltanschauung oder eines anderen zentralen Ziels oder eines exponierten Inhalts der eigenen Existenz. Man sieht an dieser gewiß unvollständigen Definition, wie vielfältig in der Moderne jene Möglichkeiten sind, das eigene Dasein zu erfüllen. Vergleichsweise einfach bringt der Katechismus der katholischen Kirche den Zweck gläubigen Lebens auf den Punkt: nämlich „Gott zu lieben, ihm zu dienen und dadurch in den Himmel zu kommen“.

Der frühere Leiter einer psychiatrischen Klinik, Manfred Lütz, bekannt durch diverse TV-Auftritte und vielbeachtete Bücher, ist dem katholischen Glauben eng verbunden. Dennoch nähert er sich seinem Thema mit einer Weite, die auch für Rezipienten mit anderen weltanschaulichen Zugängen interessant sein könnte. Natur, Schönheit, Kunst und Mensch werden in der reich bebilderten Darstellung in einer beeindruckenden Synopse präsentiert: Ohne Natur gäbe es den Menschen nicht, der ihre mannigfachen Vorgaben zu Kunstwerken verarbeitet und beides auf durchdachte Weise verbindet. Da die Zahl kreativer Artefakte, die nicht zuletzt aus der Suche der Künstler nach Sinn hervorgehen, prinzipiell unermeßlich ist, bedarf es einer räumlichen Begrenzung der Analyseobjekte.

Rom, die ewige Stadt, bietet sich als Untersuchungsgegenstand förmlich an. Zu ihr scheinen nicht nur alle Wege zu führen; vielmehr zeigen unzählige Statuen, Fresken, Bauwerke aller Art und Kirchen, was herausragende Repräsentanten der humanen Spezies zu schaffen in der Lage waren und sind. Solche Leistungen haben bisher viele Generationen überdauert. 

Im Pantheon hätte auch der christliche Gott noch Platz gehabt

Lütz geht in seinem Rückblick bis auf die Frühzeit der Stadt Rom zurück. Einzelne bekannte Kunstschöpfungen geben darüber Aufschluß. Die römische Wölfin, auf dem Kapitol zu Hause, ist ein kraftvolles Beispiel aus dieser Epoche. Überall scheinen in den großen künstlerischen Produktionen Ahnungen von Unsterblichkeit auf. Besonders offensichtlich ist dieser Zug bei der Betrachtung der Laokoon-Darstellung, heute in den Vatikanischen Museen zu bewundern. Sie berührt den Themenkreis des trojanischen Krieges. Das Leid ist dem im Todeskampf liegenden Vater ins Antlitz geschrieben. Er wird von überlegenen Schlangen, die von der Göttin Athene geschickt worden sind, zusammen mit seinen Söhnen getötet. In der kunsttheoretisch so wirkmächtigen Skulpturen-Gruppe ist elendes Schicksal fast mit Händen zu greifen. Ist dieses aber sinnvoll oder gar gerechtfertigt?

An dieser Stelle gelingt Lütz der Übergang vom heidnischen Rom zum christlichen. In mancherlei Hinsicht ist dieser Wandel einschneidend, in anderer eher unmerklich. Für Christen ist das Leid nichts, was als Gottesferne zu deuten ist. Ein Christ wird die Laokoon-Gruppe anders interpretieren als ein heidnischer Römer.

Doch die Sinnsuche in der Kunst hört mit der Durchsetzung des Christentums im römischen Reich nicht auf, sondern bezieht die Überlieferung sogar ausdrücklich ein. Vertreter der neuen Glaubensrichtung – stellvertretend ist die Traditionslinie von Paulus über Irenäus von Lyon bis zu Augustinus zu erwähnen – sehen das Gute, Wahre und Schöne nicht erst seit der Geburt Jesu verwirklicht; diese Repräsentanten gehen sogar von einer „Ecclesia ab Abel“ (Augustinus) und von einem „anonymen Christentum“ (Karl Rahner) aus, das auch von Heiden und Andersgläubigen im praktischen Vollzug zu verwirklichen ist, sofern sie ihrem Gewissen treu bleiben.

Im Pantheon, einem der imposantesten Kuppelgebäude der Architekturgeschichte überhaupt, der Wohnstätte aller römischer Götter, hätte auch der christliche noch Platz gehabt. Seine Anhänger sahen ihn aber nicht als einen unter vielen. Sie bestanden auf seiner alleinigen Macht. Demgegenüber stuften sie alle Konkurrenten als Götzen ein. Diese intransigente Sicht ist hauptsächlich für die prekäre Stellung dieser Glaubensbewegung im Römischen Reich verantwortlich.

Es übersteigt die Möglichkeiten einer Besprechung bei weitem, auf alle jene Hinweise einzugehen, die man in Lütz’ lesenswerten Interpretationen zwischen Endlichem und Ewigem findet. Eine wahrlich anspruchsvolle Perspektive auf das, was wir gern oberflächlich Lebenssinn nennen! Wer den tiefen Ernst zur Kenntnis nimmt, mit dem Lütz an die Gegenstände seiner Untersuchung herantritt, die er bis in das Pontifikat von Papst Franziskus hinein betrachtet, der ahnt, daß die Dimension der Ewigkeit nicht nur als Kontrastprogramm dem Glaubwürdigkeitsverlust flüchtiger Gegenwartserscheinungen (Kirchen, Parteien, Verbände und so fort) geschuldet ist. Ohne sie ist besser gesagt der Sinn und das Glück menschlichen Daseins schlechthin nicht vorstellbar.

Manfred Lütz: Der Sinn des Lebens.Mit einem Geleitwort von Elke Heidenreich. Kösel-Verlag, München 2024, gebunden, 368 Seiten, 30 Euro