© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 20/24 / 10. Mai 2024

Ein durchweg bürgerlicher Charakter
Vor 250 Jahren wird Ludwig XVI. französischer König, der nach der Revolution auf dem Schafott enden sollte
Jan von Flocken

Als König Ludwig XV. von Frankreich am 10. Mai 1774 gestorben war, stieß sein Enkel und Thronfolger einen verzweifelten Schrei aus: „O Gott, ich bin der unglücklichste Mensch!“, schluchzte der 19jährige fassungslos. Als könne er sein tragisches Schicksal ahnen, ließ der Mann, der niemals König sein wollte, den Tränen freien Lauf.

Doch mit dem ihm eigenen Phlegma fügte der Ur-ur-urenkel des „Sonnenkönigs“ sich schließlich in seine royale Laufbahn und das so unauffällig wie möglich. Er haßte jegliche Repräsentationen und war ein durch und durch bürgerlicher Charakter. Neben der Jägerei frönte er als liebstem Zeitvertreib dem Schlosserhandwerk. Viele Stunden brachte er in mehreren eigens errichteten Werkstätten zu. Allen Bediensteten begegnete der Bourbone als äußerst jovialer Herr. Sein Kammerdiener und Barbier Jean-Baptiste Cléry nannte ihn später „den besten aller Könige“.

Die früh arrangierte Ehe mit der österreichischen Prinzessin Marie-Antoinette 1770 rief große Irritationen hervor. Denn der Hochzeit folgten fast acht kinderlose Jahre, für die allein Marie-Antoinette verantwortlich gemacht wurde. Weil sie offenbar nicht das Bett des Königs teilte, so zahlreiche böse Zungen, war klar: Sie begab sich auf sexuelle Abenteuer – wahlweise mit Lakaien, Herzögen, Hofdamen oder sogar Haustieren. Eine Operation behob schließlich 1778 das körperliche Problem, und das Paar bekam vier Kinder, darunter 1785 den Thronfolger Louis. Doch der ideelle Schaden aus acht unfruchtbaren Ehejahren blieb hartnäckig.

„Inzwischen erhoben sich um ihn Gefahren und Skandale“, so Ludwigs Biograph Bernard Fay. „Aber er hatte zu viel Arbeit, um darunter zu leiden, und zu viel inneres Gleichgewicht, um sich ernsthaft damit zu beschäftigen.“ Im französischen Volk galt die Monarchie bald als abgewirtschaftet. Doch ausgerechnet der nordamerikanische Unabhängigkeitskrieg mit seinen Losungen von republikanischer Freiheit und Gleichheit gehörte zu den größten politischen Erfolgen des Königs. Denn ohne Ludwigs militärische und finanzielle Hilfe hätten die Nordamerikaner niemals ihren Kampf gegen die britische Kolonialmacht gewonnen. Zunächst aber beschleunigte der 1783 beendete Krieg den transatlantischen Import revolutionärer Ideen und riß vor allem ein gewaltiges Loch in die Staatsfinanzen.

Dieses pekuniäre Problem prägt die gesamte Regierungszeit Ludwig XVI. Zahllose Reformvorhaben unter verschiedenen Finanzministern scheitern an der hartnäckigen Weigerung von Adel und Klerus, etwas zum Steueraufkommen beizutragen. Als letzte Rettung beruft Ludwig im Frühjahr 1789 die „Generalstände“ (États généraux) nach Paris ein; dieses Vorparlament zur Steuerbewilligung war seit 175 Jahren nicht mehr zusammengekommen. Hier entwickelt sich binnen weniger Wochen ein revolutionär-agitatorisches Potential, das schließlich im Bastillesturm gipfelt. Der König erkennt durchaus den Ernst der Lage, reagiert aber völlig passiv und zieht sogar sein Militär aus der Hauptstadt ab – ein böser Fehler, denn nun beginnt die Stunde der Radikalen. Da er in kritischen Augenblicken nie eine harte Linie wählen will, versucht Ludwig später, durch mehr oder minder geschickte Intrigen verlorenes Terrain wiederzugewinnen. Meist aber ordnet er sich seiner gedanklich weitaus flexibleren Frau unter. Es war eine „treuherzige Liebe, die der kurzsichtige, gewissenhafte und unelegante Mann seiner Gemahlin entgegenbrachte“, so Leonhard Horowski in seinem Standardwerk „Das Europa der Könige“.

Marie-Antoinette rät zur Härte. Doch statt mit treuen Regimentern auf Paris marschieren zu lassen, bleibt Ludwig untätig – mit dem Resultat, daß er wenig später von einer Horde Marktweiber mitsamt seiner Familie zwangsweise in die Hauptstadt überführt wird. Er und Marie-Antoinette werden Versailles nie wiedersehen. Eine dilettantisch organisierte Flucht scheitert im Juni 1791 und bringt das Herrscherpaar weiter in Verruf. Während die Königin konspirativ das monarchistische Ausland um Hilfe anfleht, wird ihr Gemahl zur Geisel der Revolutionäre. Die nachgerade übermütige Kriegserklärung Frankreichs an den Kaiser zu Wien stürzt das Land ab dem Frühjahr 1792 in mehr als zwei Jahrzehnte tödlicher Konflikte. Ludwig muß das Kriegsdokument widerwillig unterzeichnen.

Angeklagt wegen bis dato völlig unbekannter Straftatbestände

Trotzdem ist der Untergang des Ancien régime nicht mehr aufzuhalten. Im August 1792 wird das königliche Schloß, die Tuilerien, gestürmt. Der inzwischen abgesetzte Monarch muß ins Gefängnis, Frau und Kinder ebenso. Ende 1792 wird ihm von der Nationalversammlung der Prozeß gemacht. Angeklagt wegen „Verschwörung gegen die öffentliche Freiheit und Anschlägen auf die nationale Sicherheit“, zwei bis dato völlig unbekannte Straftatbestände, billigt man ihm wenigstens einen Verteidiger zu.

Eine Volksabstimmung über Ludwigs Schicksal verweigern die Deputierten, weil sie – wie die Revolutionsführer aller Epochen – dem einfachen Volk nicht über den Weg trauen. Nach siebentägigen Beratungen mit namentlicher Abstimmung ergibt sich die denkbar knappste Mehrheit von 361 zu 360 Abgeordneten für die Todesstrafe. Ihr sofortiger Vollzug wird für den nächsten Tag angeordnet. Also tritt Ludwig am Vormittag des 21. Januar 1793 den Gang zum Schafott auf dem Place de la Révolution an. Angeblich 20.000 Menschen sehen zu, wie der Delinquent sich kurz gegen den Henker wehrt, der ihm Handfesseln und eine Augenbinde anlegen will. Seine letzten Worte („Volk, ich bin unschuldig! Ich vergebe …“) werden vom Trommelwirbel erstickt. Dann fällt des Königs Haupt unter der Guillotine. Seine Gemahlin teilt dieses Schicksal neun Monate später.

Bild: Hinrichtung König Ludwigs XVI. in Paris, 21. Januar 1793, kolorierter Kupferstich: In kritischen Augenblicken wählte er nie eine harte Linie, sondert reagierte passiv