Seine Spur führt auf eine Halbinsel mitten in der Havel am Ausgang des Großen Wannsees und ist über eine Brücke mit dem Ufer verbunden. Schwanenwerder heißt dieses mondäne Eiland. Dort finden sich prachtvolle, herrschaftliche Villen und ausgedehnte, gepflegte Parklandschaften. Verbunden sind diese luxuriösen Besitztümer durch eine ovalförmig verlaufende Inselstraße, von der aus nur die Bewohner Zugang zum Ufer haben. Dieser exklusiven Abgeschlossenheit entsprechend, nimmt sich die illustre Prominenz aus, die hier logierte. In unseren Tagen: Axel Springer mit seiner Villa Tranquillitati, inmitten eines 2,7 Hektar großen Parks. In den dreißiger Jahren: Joseph Goebbels, Ernst Udet, Albert Speer und Theodor Morell, der Leibarzt Hitlers. Und in den zwanziger Jahren: Rudolph Karstadt, der Warenhausmogul, Richard Monheim, der Besitzer des „Trumpf-Schokoladenimperiums“ und Süßwarenkönig der Weimarer Republik; und er: Alexander Helphand als die schillerndste und mysteriöseste Figur von allen.
Die Kinder von Karl Kautsky nannten ihn ob seiner gewaltigen Leibesfülle und seiner riesenhaften Gestalt, „Dr. Elefant“. Der Tarnname, den er sich selbst zugelegt hatte, besagte genau das Gegenteil. Er nannte sich: „Parvus“, der Kleine. Widersprüchlich war auch, daß er, der Linkssozialist, mit Geld nur so um sich warf. Jede Woche, fast wie der Große Gatsby am Sund auf Long Island, veranstaltete er rauschende Feste auf Schwanenwerder, bei denen sich Reichskanzler und Minister, Diplomaten und Journalisten die Klinke in die Hand gaben. Sie sahen offenbar kein Problem darin, die verschwenderische Gastlichkeit eines sozialistischen Weltverbesserers auszukosten.
Seinen märchenhaften Reichtum hatte er, dem Großen Gatsby nicht unähnlich, mit krummen Geschäften und auf dunklen Kanälen zwischen 1910 und 1914 erworben. Durch Waffenschiebung in den Balkankriegen und als Generalvertreter verschiedener deutscher Rüstungsunternehmen in Istanbul hatte er Millionen zusammengerafft. Aus dem verarmten Emigranten und promovierten, staatenlosen Gelehrten, der 1867 in einem heruntergekommenen jüdischen Schtetl zwischen Wilna und Minsk in Weißrußland als Israil Lasarewitsch geboren und in Odessa aufgewachsen war, war ein Klingsor geworden, der die Formel dafür gefunden hatte, alles was er anfaßte, zu Gold zu machen.
Direkt nach dem Studium der Volkswirtschaft in Basel war er 1891 nach Deutschland gekommen. Dort machte er sich als Theoretiker der SPD schnell einen Namen und als Rußlandexperte der Partei Furore. 1905 warf er sich dann Hals über Kopf in die russische Revolution. Ein paar Wochen lang war er Trotzkis Nachfolger als Vorsitzender des ersten Petersburger Sowjets und wurde an dessen Seite in der Peter-und-Paul-Festung interniert. Auf dem Weg in die Verbannung nach Sibirien gelang ihm unter abenteuerlichen Umständen die Flucht. Er schlug sich nach Deutschland durch und kehrte an den Schreibtisch zurück, als wäre nichts gewesen. Er nahm sein von kärglichen Honoraren für seine sozialistischen Schriften gespeistes Leben wieder auf und war gefangen in seiner kümmerlichen Existenz eines von der Polizei herumgehetzten Bohemiens.
Einem Zauberstab gleich, hatten ihn dann die Wirren vor dem Ersten Weltkrieg zu sagenhaftem Reichtum gebracht. Und im großen Krieg wurde er noch reicher: mit seiner von Kopenhagen aus operierenden Import-Export-Firma, die den illegalen Handel nach Rußland über die neutralen skandinavischen Länder abwickelte. Der Weltkrieg war es auch, der ihn wie aus dem Nichts auf die Bühne der großen Politik katapultierte. Jetzt wurde aus dem Intellektuellen und Großschieber eine Figur, deren Tatkraft und Ideenreichtum fast ein ganzes Jahrhundert verändern sollten.
Helphand hatte die Idee, Lenin ins Zarenreich einzuschleusen
Nur ein Jahr war der Krieg alt, da hatte er schon begriffen, daß das mörderische Ringen die Chance für den Umsturz war. Der Kaiser mußte den Krieg gewinnen und der Zar ihn verlieren. Die Revolution in Petersburg war das Werkzeug, das Deutschland den Sieg über Rußland verschaffte. Und sie war das Fanal, um sie von dort nach Deutschland zu tragen. Es war eine vollkommen schlüssige Berechnung, die er 1915 zunächst dem deutschen Gesandten in Kopenhagen, Ulrich Graf von Brockdorff-Rantzau, unterbreitete, ohne seinem Gegenüber freilich das gesamte Ausmaß seiner Kalkulation zu verraten. Obschon sie ein bizarres Gespann waren, der steife, holsteinische Aristokrat und Kommunistenfresser und der funkensprühende, ostjüdische Koloß, Brockdorff-Rantzau ebnete ihm die Wege in die Berliner Entscheidungszirkel. Es dauerte keine zwei Jahre, da war er zum deutschen Großagenten geworden. Seine Idee, Lenin als Impulsgeber für den radikalen Umsturz ins Zarenreich einzuschleusen, vermochte es tatsächlich, Rußland aus dem Feld zu schlagen und den Deutschen ein riesiges Ostimperium zu bescheren.
Die Niederlage und der Zusammenbruch vom Spätherbst 1918 trafen ihn dann wie ein Keulenhieb. Jetzt war der letzte Teil seines tollkühnen Plans wie eine Seifenblase geplatzt. Denn seine Genossen von der SPD hatten die Revolution auf halbem Wege abgewürgt. Jetzt zog er sich, vereinsamt und gebrochen in die Schweiz zurück. Aber dort holte ihn seine Vergangenheit wieder ein. Maximilian Harden, der vor der Jahrhundertwende die homosexuellen Kreise um Wilhelm II. ans Licht gezerrt hatte, enttarnte mit dem Eifer des gnadenlosen Jägers jetzt seine Skandale und Schiebereien.
Das war der Grund, weshalb er – nach schmählicher Ausweisung aus der Schweiz – sich in Schwanenwerder in ein Luxusleben stürzte. Wenn er sich mit Verschwendungssucht, Alkoholexzessen und Sexualorgien förmlich betäubte, dann suchte er nicht, wie Gatsby, nach seiner Jugendliebe, die er zurückgewinnen wollte. Bei ihm war es ganz anders. Er wollte vergessen und die Vergangenheit mit Prasserei und Prahlerei zudecken. Es war die Zeit, als sein Name ganz oben auf den Feme- und Todeslisten der „Organisation Consul“ stand. Aber die Mörder mußten sich die Hände nicht mehr schmutzig machen. Verfallen und verbraucht an Körper und an Geist, raffte den 57jährigen 1924 ein Schlaganfall dahin.
Prof. Dr. Rainer F. Schmidt lehrte Neueste Geschichte und Didaktik der Geschichte am Institut für Geschichte der Universität Würzburg.
Foto: Alexander Helphand