Mit großen Ausstellungen wurde 1978 und 2016 in Nürnberg für Kaiser Karl IV., 1316 geboren und 1378 gestorben, umständlich geworben, weil ihn die Deutschen nicht gut in Erinnerung behalten hatten. Sie blieben folgenlos, obschon dieser Kaiser mit der Goldenen Bulle von 1356 verbunden ist, dem Reichsgrundgesetz, das immerhin bis 1806 gültig war. Der Berliner Historiker Olaf B. Rader möchte nun abermals auf diesen Herrscher aus dem Hause Luxemburg aufmerksam machen. In Prag geboren, in Paris aufgewachsen, wo er den Namen Wenzel ablegte und sich fortan Karl nannte, als König von Böhmen und als römisch-deutscher Kaiser, auch in Italien unterwegs, kann er keineswegs als provinzielles Phänomen gelten. Er sprach neben Latein und Französisch selbstverständlich auch Deutsch, Italienisch und Böhmisch. Ungewöhnlich für seine Zeit, hatte sich dieser Ritter und Fürst mit Theologie und anderen Wissenschaften beschäftigt, so daß es nicht sonderlich überrascht, wenn er 1348 in Prag die erste Universität jenseits der Alpen gründete.
Seine intellektuellen Fähigkeiten stritt ihm keiner ab, und es sprach sich bald herum, wie gewandt und listenreich er zu verhandeln und zu täuschen verstand. Geschäftstüchtig behielt er seinen Vorteil, und damit den Nachteil des anderen, scharf im Auge, sah im Geld den Nerv aller Dinge und sorgte sich darum, mit Schulden und riskanten Spekulationen immer über beträchtliche Summen zu verfügen, deren lockender Glanz politisch Zögernde oder offene Gegner überredete, sich mit ihm zu einigen. Dies krämerhafte Betragen fanden viele, auch solche, die sich erfolgreich darauf einließen, für wenig vornehm und sehr bürgerlich. Karl sprach zwar gern vom idealen Kaiser, der als Quell des Rechts jeden darin schützt, das Seine in Ruhe zu genießen, aber als politischer Egoist bestätigte er ohne Scheu, daß Grundsätze nicht hoch genug gehalten werden können, um bequem unter ihnen durchzuschreiten. So geriet er rasch in den Ruf, ein bigotter Heuchler zu sein, der sich mühelos mit nicht minder berechnenden Klerikern verstand, ihm verwandt, dem „Pfaffenkönig“, wie Deutsche und Italiener ihn gereizt nannten, der Ruhe mit Päpsten und Kirchenfürsten halten wollte, um welchen Preis auch immer.
Olaf B. Rader unterschlägt die kleinlichen Züge dieses Schlaumeiers nicht, den er dennoch zu einem „großen Mann“ steigern möchte. Im Untertitel greift er einen Lobspruch auf, der einst Kaiser Karl IV. sehr behagte, „das Beben der Welt“ gewesen zu sein. Davon kann jenseits festlicher Zusammenhänge und ihrer Übertreibungen gar nicht die Rede sein. Er versucht auch gar nicht, mit einer Entwicklungsgeschichte in Raum und Zeit Kaiser Karl IV. als eine viel bewirkende Kraft zu vergegenwärtigen. Statt einer Biographie liefert er eine lockere Szenenfolge in einem Drama mit drei Akten: Erwählt – erhöht – verweht. Der Leser wird nicht überfordert und muß sich nicht auf ermüdende Zusammenhänge einlassen. Er kann sich vorübergehend mit gerade sehr „aktuellen“ Wetterveränderungen oder der Pestepedemie nach 1347 befassen, über die schon viel geschrieben wurde wie über die Ausschreitungen gegen Juden als deren angebliche Verursacher. Wem das schon allzu bekannt vorkommt, hat die Wahl, auf Entdeckungsreisen zu gehen, um sich mit den damals neuen modischen Strumpfhosen für Männer vertraut zu machen, mit Karls Kaiserkrönung in Rom, mit Spionen und Doppelspionen oder den Gichtanfällen und den Frauen und Kindern dieses gekrönten Mitmenschen, der aber auch ein entrückter Kaiser und König war und zuweilen große Politik mit großen Gesten bedeutungsvoll umrahmte.
Eine Zeit, in der vieles in Kirche und Welt fragwürdig geworden ist
Die aneinandergereihten dramatisierten Episoden ergeben freilich keine rechte Vorstellung von Karls großer Politik mitten in Europa, das aus dem Gleichgewicht geraten war und nach einer neuen Balance suchte. Die vielen einzelnen Histörchen ergänzen einander nicht zu einer insgesamt geordneten Geschichte der Staaten und geistiger Bewegungen in einer Zeit, die nicht zur Ruhe findet, weil vieles in Kirche und Welt fragwürdig geworden ist. Olaf B. Rader kann sich, um die Einzelheiten miteinander in Verbindung zu setzen, an die Deutsche Geschichte des Spätmittelalters von Heinz Thomas halten. Diese Möglichkeit ist dem Leser, der sich nicht mit Gabelbissen zufriedengeben mag, sondern den es nach herzhafter, kräftiger Kost verlangt, verwehrt, weil das immer noch unersetzliche Werk von Heinz Thomas leider nicht mehr im Buchhandel verfügbar und ihm wahrscheinlich ohnehin unbekannt ist. Olaf B. Rader verweist nicht darauf und verweigert seinem Leser eine willkommene Hilfe, sich im spannungsvollen Durcheinander während des „Herbsts des Mittelalters“ zurechtzufinden.
Das Hin und Her inszenierter Momente, an das die Zuschauer von Fernsehgeschichten längst gewöhnt sind, erweist sich für „Grauflächen“, also für Bücher, als ziemlich unbequem. Assoziationen zum Kaiser als Bauherrn, Stadtplaner oder Freund der schönen Künste wechseln sich ab mit Impressionen zu seiner sehr innerlichen Religiosität, die über das von Gott eingesetzte Kaisertum eine politische Dimension gewinnen. Eine solche politische Theologie, wie Ernst Kantorowicz und Carl Schmitt diese Legitimierung monarchischer Ordnung nennen, dient Interessen und Zwecken bei der nie harmlosen Auseinandersetzung zwischen Kirche und Reich. Der Kaiser, unmittelbar zu Gott, wollte möglichst unabhängig von päpstlichen Einwänden als König von Böhmen und Kurfürst des Reiches seine Hausmacht für sich und seine Erben erweitern, sämtliche schlesischen Herzogtümer mit der böhmischen Wenzelskrone vereinen und möglichst auch Brandenburg erwerben, was ihm gelang. Es lag nahe, von dieser geballten Landmasse aus auch die Ostsee in raumgestaltende Kombinationen einzubeziehen, ohne Bayern und Österreich zu vernachlässigen, und stets bemüht zu sein, Ungarn in die eigene Machtsphäre hineinzuziehen.
Solch weitreichende Pläne konnte Karl IV. nur als Kaiser fassen, der mit seinen Mitteln dem Königreich Böhmen diente. Deswegen mußte er dem Reich nicht schaden, da schon frühere Kaiser darum bemüht waren, ihrer kaiserlichen Macht eine stabile Grundlage zu verschaffen, in dem sie viele Herrschaften unter ihres Hauses Autorität vereinigten. Trotz pragmatischer Geschicklichkeit und einiger Erfolge beim Ausbau seiner Hausmacht blieb von Karls Plänen zu einer Raumordnung um Böhmen wenig übrig. Die spätere Donaumonarchie des Hauses Österreich, eine südwestdeutsche und burgundische Dynastie, hat unmittelbar nichts mit diesem Kaiser und seinen Projekten zu tun.
Der dritte Teil des Buches steht unter dem Titel: „Verweht“. Auch ein Kaiser und König kann als Spiel der Zeit, wie ein Irrlicht und schnell geschmolzener Schnee aus dem Gedächtnis verschwinden. Fromme Christen überraschte einst ein solches Geschick nicht sonderlich im Gegensatz zu manchen Historikern. Doch auch Olaf B. Raders Versuch, Deutsche, und wohl auch Italiener, zu überreden, im vierten Kaiser Karl einen Karl dem Großen nicht ganz unwürdigen Nachfolger zu sehen, wird ihm nicht zu einem plötzlichen Ansehen und überraschendem, späten Nachleben verhelfen.
Bild: Bildnis Kaiser Karls IV. auf einer Nürnberger Buchmalerei, Deckfarben
auf Pergament um 1430: Der Kaiser wollte möglichst unabhängig von päpstlichen Einwänden als König von Böhmen und Kurfürst des Reiches seine Hausmacht erweitern
Olaf B. Rader: Kaiser Karl der Vierte. Das Beben der Welt. Eine Biographie. C.H. Beck, München 2023, gebunden, 544 Seiten, 38 Euro