© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 20/24 / 10. Mai 2024

Europas populärster Marinemaler
Bildende Kunst zwischen Naturalismus und Symbolismus: Anton Melbyes Inszenierungen von Meer und Schiff tauchen aus der Tiefe der Vergessenheit auf
Oliver Busch

Pflegebedürftig, im dementen „Kindheitszustand“, der ihm nicht mehr erlaubte, seinen Namen zu schreiben, starb im Januar 1875 der Maler Anton Melbye im Alter von nur 56 Jahren in seinem ländlichen Domizil nahe Paris. Zahllose Nachrufer, die sich in der internationalen Presse zu Wort meldeten, erinnerten daran, daß Europa mit dem einst von Kaiser Napoleon III. zum Ritter der Ehrenlegion geschlagenen Künstler seinen „populärsten Seemaler“ verloren habe.   

Dreißig Jahre später war dieser Ruhm vom Winde verweht. Die ans dänische und deutsche Publikum adressierte „Dänische Kunst des 19. Jahrhunderts“ (1907) aus der Feder des Kopenhagener Museumsdirektors Emil Hannover widmet dessen Landsmann nur noch wenige Zeilen, die hämischer kaum hätten formuliert werden können. Reich begabt sei dieses Kompositionstalent zwar gewesen. Aber nie habe er begriffen, daß Kunst eine ernsthafte Beschäftigung und kein Spielen mit Farben und Pinseln ist. Unablässig dramatisierte er darum Meer und Himmel, stattete sie mit grelleren Effekten aus, als die Natur sie bietet. So entstanden seine „bunten Reisebilder“, deren Ursprung mehr in Melbyes Phantasie als in der Wirklichkeit zu suchen sei. 

Viele Gemälde des Künstlers befinden sich in Privatbesitz

Dieses Verdammungsurteil haben Generationen von Kunsthistorikern nicht revidiert. Erst vor kurzem bahnte sich daher die Wiederentdeckung Anton Melbyes an. Sie ist im wesentlichen ein Verdienst der früh verstorbenen Hamburger Kunsthistorikerin Regine Gerhardt (1969–2018). Ohne ihre Initiative wäre die zum 100. Geburtstag des Malers im Altonaer Museum und in der Kopenhagener Sammlung Hirschsprung 2017/18 präsentierte opulente Werkschau nicht möglich gewesen. Gewann Gerhardt doch das Vertrauen jener in Hamburg konzentrierten, im elitären „Melbye Circle“ vernetzten Privatsammler, in deren Villen mehr Gemälde des Künstlers hängen als in den Museen der Elbmetropole. Zu denen gehört seit 2008 immerhin auch das Internationale Maritime Museum in der Speicherstadt, das die weltweit größte, vom Springer-Adlatus Peter Tamm in Jahrzehnten aufgebaute private Sammlung zur Schiffahrts- und Marinegeschichte birgt. Aber selbst unter deren 5.000 Gemälden finden sich nur wenige von Melbyes Hand.  

Gerhardt, die ihre umfangreichen Forschungen zu Leben und Werk des Meisters mit einer 2017 eingereichten Dissertation krönte, kuratierte auch die Gedenkausstellung für den „Maler des Meeres“ und gab in der rasch vergriffenen ersten Auflage der üppig illustrierten Begleitpublikation einen fürs erste Kennenlernen bis heute unentbehrlichen Überblick. Zudem ist ihre Doktorarbeit jetzt posthum als Buch greifbar, 660 eng bedruckte Seiten füllend, 2.100 Anmerkungen inklusive. Klingt abschreckend, doch verliert sich diese monumentale Studie nicht im üblichen Klein-Klein solcher akademischen Qualifikationsschriften.

Aus der Fülle ihres durch langjährige Archiv- und Bibliotheksrecherchen erworbenen Wissens schöpfend, öffnet Gerhardts stilistisch eingängige, differenzierte Darstellung weite historische Horizonte, ordnet Melbyes Œuvre, ausgehend von ikonographischen und technischen Bildanalysen, ins Bezugsfeld politischer, ökonomischer und soziokultureller Entwicklungen des 19. Jahrhunderts ein. Exemplarisch soll Melbyes Schaffen als ein Kapitel der sich zwischen seinen Wirkungsstätten Kopenhagen, Hamburg und Paris abspielenden „transnationalen europäischen Kunstgeschichte“ rekonstruiert werden. Um anhand der zeitspezifischen künstlerischen Wahrnehmung von Meer und Schiff auch die eminent soziale Funktion der Marinemalerei zu ermitteln.

Allein dieses letzte der selbstgesteckten Ziele erreicht die Verfasserin nur in Ansätzen. Wenn das Seestück, wie sie als Summe ihrer bestechenden Bildanalysen behauptet, die Mentalität des modernen, sich durch technische Neuerungen wie dem Dampfschiff aus der Abhängigkeit von den Naturgewalten sukzessive befreienden Menschen widerspiegelt, dann wäre die Frage zu beantworten gewesen, auf welche psychischen Verfaßtheiten oder „Seelenlagen“ Melbyes Bilder berechnet sind. Faszinierten sie eine zahlungskräftige adlige und großbürgerliche Klientel, die der marktstrategisch überaus glücklich agierende Maler mit insgesamt 600 Gemälden und 400 Zeichnungen versorgte, weil sie in virtuoser Manier ein anthropologisches Grundbedürfnis nach Ordnung befriedigen? Es spricht einiges dafür. Sie genügen offensichtlich der überzeitlich gültigen Funktionsbestimmung von Kunst, wie sie der einflußreiche Wiener Kunsthistoriker Alois Riegl 1899 fixierte: „Kunst ist dazu da, um den Menschen vom Andrang der vielfältigen, widersprüchlichen, den Lebenswillen bedrückenden Herausforderungen der Erfahrungswelt zu erlösen“ (1899). Indem sie gerade dem transzendental obdachlos gewordenen neuzeitlichen Menschen die tröstliche Gewißheit von Ordnung und Harmonie zu vermitteln versucht, die er in einer chaotisch-dissonanten Welt vermisse und ohne die ihm sein Leben sinnlos vorkäme.

Die Kunst- und Naturauffassung des jungen Melbye formt sich im biedermeierlichen „Goldenen Zeitalter“ der dänischen Malerei, als Christoffer Wilhelm Eckersbergs Ästhetik an der Kopenhagener Akademie Maßstäbe für seine große Schule setzt. Die universale Harmonie, die das Kunstwerk zur Anschauung bringen soll, ist für den gläubigen Protestanten Eckersberg von Gott garantiert. Seine jede Dramatik meidenden Seestücke wollen darum immer noch die bis ins 18. Jahrhundert in der Gestaltung von Seesturm und Schiffbruch vorherrschende religiöse Botschaft aussenden, daß der Mensch einer übermächtigen Natur ohne göttlichen Beistand rettungslos ausgeliefert wäre. Von dieser Anschauung beginnt sich Melbye früh zu lösen, um einen Mittelweg zwischen Glauben und Wissen, Romantik und Realismus einzuschlagen. Gläubiges Vertrauen auf die Ordnung stiftende Macht Gottes weicht dabei der vordringenden materialistischen Überzeugung, daß unverrückbare Naturgesetze den Lauf der Welt bestimmen.

Die expressive Malweise vollzieht die Energie der Naturkräfte nach

Melbye ergibt sich dieser naturwissenschaftlichen Weltanschauung unter dem Einfluß des gebürtigen Norwegers Johan Christian Clausen Dahl, eines in der Kopenhagener Kunstszene stark rezipierten Exponenten der Dresdner Romantik. Im Gegensatz aber zu seinem Freund, dem Gott in der Natur suchenden Pantheisten Caspar David Friedrich, ist der „Naturalist“ Dahl nicht daran interessiert, seine Meeres- und Gebirgslandschaften religiös zu markieren. Ihre malerische Inszenierung zielt ausschließlich auf die Erzeugung atmosphärischer Stimmungen.

Melbye wählt seine Position zwischen Friedrich und Dahl, wie die Gemälde „Sturmnacht“ (1846) und „Meereseinsamkeit“ (1852) dokumentieren. Beide Werke kommen ohne den optischen  Anker eines Schiffes oder einer fernen Küstenlinie aus und konfrontieren den Betrachter direkt mit der Urkraft des aufgewühlten nächtlichen Meeres. Die expressive Malweise vollzieht die Energie unberechenbarer aquatischer Naturkräfte gleichsam nach, materialisiert sie und ist insofern deren adäquat realistische Wiedergabe.

Zugleich, so deutet Gerhardt die Wirkung dieser beiden extremen, aber für Melbye nicht untypischen Seestücke, erfahre der Betrachter, daß an einer „magischen Schwelle“, wo Meer und Himmel ineinander übergehen, ein ort- und zeitloser Raum der Kontemplation entstehe, darin kosmische Mächte wirken wie der Magnetismus des Mondlichts. Größte Detailtreue in der Naturerfassung, nautische und schiffstechnische Exaktheit, verbinde sich hier mit hochspekulativer Metaphysik. Daß der naturwissenschaftlich geschulte Melbye in Paris als praktizierender „Geisterseher“ Stammgast bei spiritistischen Treffen war, entsprach darum einem mit Friedrich verwandten Selbstbild des Künstlers als romantischer Seher, dessen träumerischer Blick von außen nach innen gelenkt wird. 

Trotzdem beruhen das internationale Ansehen und die Verkaufserfolge, wie sie Melbye vor allem bei Hamburger Reedern und Überseekaufleuten erzielt, auf einem ansteckenden Fortschrittsoptimismus, der sein Publikum in der Zuversicht bestärkt, mit Segel- und Dampfkraft den Kampf gegen die Elementargewalten gewinnen und im Zeitalter der ersten Globalisierung, des Imperialismus und Kolonialismus, die Herrschaft des europäischen Menschen über den ganzen Erdball aufrichten zu können.


Regine Gerhardt: Anton Melbye und das Seestück im 19. Jahrhundert, Verlag Hatje Cantz, Berlin 2023, broschiert, 662 Seiten, Abbildungen, 38 Euro