Naturwissenschaften hatten gegenüber den Geisteswissenschaften bisher immer einen Vorteil. Erkranken beide an Ideologie, so gibt es für erstere immer eine natürliche Grenze des Faktischen. Noch der größte Fanatiker unter den Ingenieuren wird Probleme bekommen, wenn er ein Holzständerwerk zum Stahlbetonskelett erklärt, weil sich dieses so fühlt, weil anderes Ausdruck von Rassismus und Diskriminierung wäre. Die Präsidentin der Technischen Universität Berlin, Geraldine Rauch, ist wohl angetreten, das Gegenteil zu beweisen.
Erst seit zwei Jahren im Amt, kann die ausgebildete Mathematikerin bereits auf eine ansehnliche Liste an Peinlichkeiten zurückblicken. Auslöser für die jüngste Kontroverse um ihre Person ist ein Artikel Rauchs, den diese am 6. Februar veröffentlichte. Ein Text, der überaus lesenswert ist, vor allem für Rauchs Gegner. Denn zwar wurde er auf dem eigentlich renommierten Wissenschaftsportal „Table.Media“ veröffentlicht, vom Inhalt her, sowie dem unbeholfenen Sprachstil, wäre eine Antifa-Seite wohl angemessener gewesen.
Erstaunliche Schwächen in Sachen Logik
Unter dem Titel „Die Aktivitäten des Netzwerks Wissenschaftsfreiheit sollten uns mit tiefster Sorge erfüllen“ beschreibt die Universitätspräsidentin zunächst deren – irgendwie klandestine? – Aktivtäten. So werde hier unter anderem „die nachträgliche Ausladung des Althistorikers Egon Flaig, der an der Universität Erlangen für eine Rede eingeladen war, kritisiert“. Dieser Mann habe „in seinem Buch über Migrationspolitik behauptet, AfD-Wähler*innen würden zum Wohle des Gemeinsinns handeln“. Ja, und?
„Die obigen Beispiele von Aktivitäten des Netzwerks sind absichtlich möglichst neutral zusammengefaßt“, entschuldigt sich Rauch. Um dann richtig loszulegen. „Die Mitglieder des Netzwerks beanspruchen für sich, unter dem Mantel der Wissenschaftsfreiheit zu agieren. Kritik oder Abgrenzungen gegenüber ihren Stellungnahmen werden als Cancel Culture betitelt oder als ideologiegetrieben abgestempelt.“ Für eine Mathematikerin zeigt Rauch erstaunliche Schwächen in Sachen Logik.
Nun, es ist das Wesen von Wissenschaftsfreiheit, daß jeder Wissenschaftler sie für seine Aussagen beanspruchen darf. Die Kehrseite ist, daß jeder hinnehmen muß, daß diese Aussagen von einem anderen kritisiert werden können. Eben dieses grundlegende Prinzip sieht das „Netzwerk Wissenschaftsfreiheit“ durch „Cancel Culture“ gefährdet. Übrigens ein Begriff, der zuerst affirmativ an amerikanischen Universitäten aufkam. In der Praxis wird dann ein Althistoriker Flaig ausgeladen, um ihn aus dem Diskurs auszuschließen.
Dienstaufsichtsbeschwerde wegen Kompetenzüberschreitung
Alles offenkundig zu komplex für Rauch. „Forschung und Lehre können nur frei sein, wenn Menschen, egal welcher Nationalität, Religion oder welchen Geschlechts, gleich und fair behandelt werden“, plustert sie sich auf. „Genau das wird durch das Netzwerk aber massiv infrage gestellt“, behauptet sie. Um dann plötzlich bei Staatsfeinden angelangt zu sein: „Die Äußerungen des Netzwerks stärken das Narrativ der Neuen Rechten, Rechtsextremist*innen und anderer verfassungsfeindlicher Organisationen.“
Dieser Text strotzt zwar vor weiteren Fehlern und Unterstellungen, aber immerhin liefert Rauch ein klares, ideologisches Bekenntnis. „Die TU Berlin positioniert sich klar gegen das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit als Zeichen für Demokratie und als Zeichen für die Solidarität mit allen Menschen.“ Was etwas peinlich war, weil das Kollektiv der TU Berlin, für das Rauch zu sprechen sich anmaßte, bis dahin nichts davon wußte, einige sogar Mitglied im Netzwerk sind, wie die TU-Professorin Gisela Müller-Plath.
Da beide in einem Beamtenverhältnis zueinander stehen, legte Plath bei der Senatsverwaltung für Wissenschaft eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen Rauch ein. „Als Grund habe ich genannt, daß Frau Rauch ihre Kompetenzen überschreitet, wenn sie ohne Gremienbeschluß ‘die TU Berlin’ gegen das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit positioniert, dem ich angehöre, und diesem ohne Belege unterstellt, es würde den verfassungsmäßig garantierten Gleichbehandlungsgrundsatz in Frage stellen.“
Ein erster Erfolg: Rauch änderte vergangene Woche das Bekenntnis in ihrer Suada kleinlaut in die Ich-Form. Aber auch so stellt sich die Frage, wie eine Uni-Präsidentin so einen schriftlichen Unfall hinlegen konnte. Die Mitglieder im Netzwerk Wissenschaftsfreiheit, Dieter Schönecker, Burkhard Meißner und Jörg Schäfer, kritisierten in einer Replik auf Table.Media, Rauch habe mit dem Text „nur ihre Anschlußfähigkeit an einen geläufigen Topos woker Akteure, nicht aber Klarheit im Denken“ bewiesen.
Was zu der Frage führt, warum Rauch überhaupt vom Wahlkonvent der Technischen Universität Berlin zur Präsidentin gewählt wurde. Immerhin steht sie, die mit Nasenpiercing und rotgefärbten Haaren eher wie eine Werksstudentin im Landschaftsbau aussieht, einer Einrichtung mit knapp 35.000 Studenten, über 350 Professoren und einem Jahresetat von über einer halben Milliarde Euro vor. Ihr Amtsvorgänger, der promovierte Physiker Christian Thomsen, war jedenfalls wesentlich pragmatischer.
Zwar trat Thomsen als Gastredner bei „Fridays for Future“ auf, andererseits sorgte er 2016 für Schlagzeilen, als er einen Gebetsraum für muslimische Studenten schloß. „Es ging um die Grundsatzfrage: Wollen wir an unserer Universität religiöse Veranstaltungen oder nicht? Ich bin der Meinung, daß Hochschulen und Religion voneinander getrennt sein sollten“, sagte er damals zur Begründung. Dennoch unterlag er im April 2022 in einer Kampfabstimmung seiner Herausforderin Rauch.
Das hat wohl ein wenig mit Covid-19 zu tun. Zuvor leitete Rauch das Institut für Biometrie und klinische Epidemiologie der Charité, was auf dem Papier plötzlich zur gewichtigen Kompetenz wird. Zugleich prangerte Rauch – nicht ganz zu Unrecht – die prekären Beschäftigungsverhältnisse im wissenschaftlichen Mittelbau an: „Die Strukturen in der Wissenschaft fördern Machtmißbrauch und führen zu Abhängigkeitsverhältnissen. Dadurch können auch unbewußt Konstellationen entstehen, die sich negativ auswirken.“
In zwei Jahren kann der Wahlkonvent der TU Berlin das ja ändern. Bis dahin dürfte Rauch noch Zeit und Muße finden, die Naturwissenschaften einer „Cancel Culture“ zu unterziehen. Und die Studenten dürfen weiter Sanitäreinrichtungen benutzen, die schon marode waren, als ihre Professoren selbst noch Studenten dieser Universität waren.