© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 20/24 / 10. Mai 2024

Der vergessene Lord Byron taugt als Vorläufer der queeren Bewegung
Napoleon der Poesie

In seiner „Kulturgeschichte der Neuzeit“ nennt Egon Friedell  George Gordon Noel, den 6. Baron von Byron (1788–1824), den „Titelhelden seines Zeitalters“. Das Seelenleben der ganzen Epoche der Restauration zwischen 1815 und 1848 sei vom Typus dieses romantischen Weltschmerz-Dichters geprägt worden, den Goethe als einen seiner wichtigsten literarischen Zeitgenossen bewunderte. Von diesem europäischen Ruhm ist wenig übrig, 200 Jahre nachdem der exzentrische Brite den Griechen in ihrem Befreiungskampf gegen die Osmanen zur Hilfe geeilt und im April 1824 einem Sumpffieber erlegen ist. Die Versepen und Dramen des Mannes, der einst ein Mythos war, lassen für den Berliner Kulturhistoriker Günter Erbe kaum noch etwas von der Faszination ahnen, die sie auf einen Goethe, aber vor allem auf die Unzahl junger Leser in der bleiernen Zeit um 1820 ausübten, die damit ihr Bedürfnis nach „Heroismus, außergewöhnlichen Taten und einem höheren Menschentum“ stillten (Sinn und Form, 2|2024). Lesern, die nicht mehr über die klassische Bildung dieses „Napoleons der Poesie“ verfügen, seien die literarischen und historischen Bezüge dieser Texte nur noch mit Hilfe von Kommentaren verständlich. Und für Bühnenzwecke seien Byrons Dramen von jeher „ausnahmslos unbrauchbar“, wie der jüngste Reanimationsversuch  an der Berliner Volksbühne gezeigt habe, wo sich im April 2023 sein Drama „Sardanapal“ (1821) als Reinfall erwies. Immerhin habe das Spektakel das Potential offenbart, das Biographie und Werk des bisexuellen Päderasten Byron bieten, um ihn als „Vorläufer der queeren Bewegung“ zu vermarkten. (dg)

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