Die Erosion der christlichen Kirchen hat auch vor den Toren Wiens nicht haltgemacht. 400 Jahre nach dem Erfolg der habsburgischen Gegenreformation scheint in Österreichs Hauptstadt die katholische Kirche im Niedergang. Bekannten sich noch bis in die 1970er Jahre ca. 80 Prozent der Einwohner zur katholischen Konfession, so ist dieser Anteil nun laut statistischem Jahrbuch auf unter 30 Prozent gerutscht. Von den Wiener Protestanten muß gar nicht geredet werden. Dagegen wuchs der Anteil der Konfessionslosen auf 35 Prozent und der Muslime auf 15 Prozent massiv.
Dieser Trend scheint sich auch im Absturz der katholischen ÖVP in den Wahlprognosen zu zeigen. Lag die Partei bei Gemeinderatswahlen bis in die 1980er Jahre immerhin um 30 Prozent, so werden ihr derzeit nur noch 10 Prozent prognostiziert. Die seit der Nachkriegszeit ununterbrochen in Wien regierende SPÖ rutscht aktuell auf 35 Prozent, während die FPÖ auch in der Hauptstadt mit 23 Prozent beim Wahlvolk punktet. Der letztjährige Konflikt zwischen FPÖ-Chef Herbert Kickl und den Kirchen scheint der Partei nicht zu schaden. Kickl hatte wegen vieler Teuerungen appelliert, aus christlicher Nächstenliebe die Kirchenbeiträge auszusetzen. Darauf hatte der altkatholische Generalvikar Martin Eisenbraun zurückgegiftet, besser solle die FPÖ ihre Mitgliedsbeiträge aussetzen.
Leichtigkeit und Entschleunigung scheinen die Stadt zu durchziehen – wer keine Zeit hat, hat Pech gehabt.
Dennoch hat sich eine katholische Prägung erhalten. Das zeigt sich nicht nur in den Sakralbauten wie der Karlskirche oder dem Stephansdom, sondern auch durch eine bisweilen barock anmutende Eleganz im Straßenalltag. Präsentieren sich in Berlin die Inhaberinnen von Kunstgalerien nicht selten mit grünen Haaren, punkigem T-Shirt und Nasenpiercing, schweben in Wien junge Frauen mit langem Haar im Kaschmirpullover durch ihren mit Ölgemälden bestückten Raum.
Leichtigkeit und Entschleunigung scheinen die Stadt zu durchziehen. Drei Orientalinnen, die ein Caféhaus betreten und dem Ober gleich mitteilen, daß es schnell gehen muß, erhalten die Antwort: „Sie haben keine Zeit? Dann sollten sie besser gehen.“ Das Bobo-Viertel rund um die Josefstädter Straße ist von esoterisch orientierten Läden für Räucherstäbchen, Buddha-Figuren und indische Yoga-Kissen geprägt. Dennoch redet dort ein älterer Mann auf einen seelenruhig zuhörenden Polizisten ein: „Wissen Sie, ich hab leider mein Leben dem Teufel verschrieben.“ Und am Praterstern, vor dem sich gerne Trinker und Schnorrer versammeln, telefoniert eine Frau lautstark, bei der einem nicht klar ist, zu welcher der Gruppen sie exakt gehört. Sie schreit über den ganzen Platz in ihr Handy: „Aber es gibt trotzdem einen Herrgott.“