© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 20/24 / 10. Mai 2024

Kleiner Ort, was nun?
Migrationskrise: In einer Gemeinde an der polnischen Grenze sollen abgelehnte Asylbewerber untergebracht werden. Dabei mangelt es nicht nur am Geld
Hinrich Rohbohm

Dunkle Wolken haben sich über Küstrin-Kietz zusammengezogen. Ein Ortsteil der brandenburgischen Gemeinde Küstriner Vorland im Landkreis Märkisch-Oderland, unmittelbar an der deutsch-polnischen Grenze gelegen. Es ist kalt und stürmisch an diesem Apriltag, an dem sich Gerhard Schwagerick gemeinsam mit der JUNGEN FREIHEIT ins unmittelbare Grenzgebiet aufmacht. Erste Regentropfen fallen. Alles andere als ideales Wetter, das symbolisch für die Stimmung steht, die derzeit im Ort herrscht. Vor allem nicht ideal, um auf einer Insel der Oder zwischen den Ruinen ehemaliger Kasernenanlagen der Sowjetarmee herumzulaufen. Daß Schwagerick es dennoch tut und warum die Stimmung im Ort bedrückt ist, hat seinen Grund.

Schon bald soll hier ein sogenanntes Ausreisezentrum für 200 abgelehnte Asylbewerber entstehen. „Ausreisezentrum“, betont der 71jährige das Wort noch einmal überdeutlich. „Offenbar will man uns mit diesem Begriff weißmachen, daß die Asylbewerber nur vorübergehend untergebracht sein würden.“ Schwagerick hat da seine Zweifel. „Wie soll das funktionieren, in Deutschland wird doch kaum jemand abgeschoben“, fragt er sich.

Er läuft an alten verwitterten Militärgebäuden mit längst zerstörten Fenstergläsern vorbei, an mit Graffiti beschmierten Mauerwänden, von denen der Putz größtenteils abgebröckelt ist. „Betreten verboten. Einsturzgefahr. Der Eigentümer“, steht auf eine der Hauswände geschrieben. Von der Liegenschaft gehen „erhebliche Gefahren für Leben und Gesundheit aus“, warnt ein weiteres Schild. „Ein Teil der Anlage darf nicht verändert werden, es steht unter Denkmalschutz“ , erklärt Schwagerick. Sowjetkaserne. Graffitibeschmiert. Häßlich. Denkmalschutz. Echt jetzt?

„Wir hatten ja ganz andere Pläne mit dieser Fläche“, erzählt der ehemalige Ortsvorsteher des 700- Seelen-Dorfes, das vor 1945 noch zur Stadt Küstrin gehörte, die heute zu Polen gehört und auf der anderen Oderseite liegt. „Wir wollten hier ein Seniorenheim hinbekommen.“ Hier, auf der Oderinsel, mit ihrem Naturschutzgebiet, ihren alten Baumbeständen, den zahlreichen Tierarten und der bewegten Geschichte. Es wäre ein echter Gewinn für den Ort geworden. Arbeitsplätze, verbesserte Infrastruktur. Ein geschichtsträchtiger, naturbelassener Ort, wie gemacht für Senioren.

Die Kämpfe Preußens gegen die Truppen Napoleons, die 1806 in Küstrin stattfanden und an die zwei Gedenksteine für gefallene Soldaten am Grenzübergang erinnern. Die Schlachten um die Seelower Höhen 1945, die Teilung Küstrins nach dem Zweiten Weltkrieg und die sowjetische Besatzungszeit. Dazu die langen Wander- und Radwege.

„Alles wunderbar für die Alten“, träumt Schwagerick einen Traum, der immer mehr zu verblassen droht. Der Rentner lebt bereits seit 34 Jahren in Küstrin-Kietz, ist mit dem Ort eng verbunden. Von 2013 bis 2019 übte er das Amt des Ortsvorstehers aus. Immer wieder hebt er die Hand zum Gruß. Die Leute in Küstrin-Kietz kennen ihn, und er kennt sie.

Vor allem aber kennt er das ehemalige Militärgelände und seinen kontaminierten Boden. Bevor dort überhaupt etwas geschehen könne, müsse man das Gebiet kostspielig sanieren, weiß er. Mit Geld, das Küstrin-Kietz nicht hat. Summen in zweistelliger Millionenhöhe, die potentielle Investoren abschrecken und dazu führten, daß das Gelände auch 30 Jahre nach dem Abzug der sowjetischen Truppen ungenutzt ist.

„Und die Gemeinde bekommt das Toilettenpapier“

Und da kommt das sogenannte Ausreisezentrum ins Spiel. Der Landkreis müsse ja eine bestimmte Quote an Aufnahmekapazitäten vorhalten, sagt Schwagerick. Dabei sei ihnen dann wohl die ehemalige Kaserne eingefallen. Derzeit gehört die Fläche noch dem Land Brandenburg. Um ihre Aufnahmequote zu erfüllen, will die Kreisverwaltung einen Teil davon übernehmen, um sie dann als „Ausreisezentrum“ zu verpachten. Schon jetzt hat der Landkreis Märkisch-Oderland rund 1.700 Asylbewerber aufgenommen, soll in diesem Jahr laut der Vorgaben des Landes weitere 1.700 aufnehmen. Was deren Verwaltung unter Zugzwang setzt.

Der Landkreis und das Land Brandenburg beabsichtigen daher, Container für zunächst 200 Asylbewerber aufzustellen. Asylbewerber, deren Anträge bereits abgelehnt worden sind und die nun eigentlich ausreisepflichtig wären. Doch an eine tatsächliche Ausreise der Migranten glaubt in Küstrin-Kietz niemand. Gerhard Schwagerick schmeckt der Behördendeal nicht. „Land an Kreis übertragen, dann an Ausländerbehörde vermieten. Und die Gemeinde bekommt das Toilettenpapier. Will man uns verarschen?“, fragt sich der 71jährige aufgebracht.

Gemeinsam mit weiteren Einwohnern hat er eine Bürgerinitiative ins Leben gerufen. So wie er es schon 2012 getan hatte, um gegen die damals im Ort grassierenden Einbruchsdiebstähle vorzugehen (JF 19/14). Jeden Montag steht die Gruppe jetzt vor dem Landratsamt in Seelow, dem Verwaltungssitz des Landkreises Märkisch-Oderland. Zusammen mit einem Transparent und einer darauf geschriebenen Forderung: „Kein Abschiebelager auf der Oderinsel bei Küstrin und anderswo.“

Es ist noch nicht lange her, da war das Areal rund um die Kaserne eingezäunt worden. „Wegen der Afrikanischen Schweinepest“, sagt Schwagerick. Von der Krankheit befallene Wildschweine waren von Polen aus auf die Oderhalbinsel gekommen. Warnschilder an den Zäunen machten auf den Umstand aufmerksam. Warnungen vor Afrikanischer Schweinepest in unmittelbarer Nähe eines Ausreisezentrums, in dem womöglich ausreisepflichtige Migranten aus Afrika untergebracht werden? Für den ehemaligen Kommunalpolitiker Schwagerick eine äußerst delikate Konstellation, die schnell zu peinlichen Mißverständnissen führen könnte.

Er informiert die Behörden, führt an, daß dies ein weiterer Grund sei, warum die Kaserne als Migrantenunterkunft doch eher ungeeignet erscheint. „Wenige Tage später waren die Schilder verschwunden“, schildert er der JF mit einem Schmunzeln.

Und noch etwas bereitet den Einwohnern von Küstrin-Kietz Sorge. Die verstärkte illegale Einreise von Migranten, die von Polen aus über die Grenze nach Deutschland kommen, habe sich auch bei ihnen im Ort bemerkbar gemacht. Vor der Autobrücke, die über die Oder nach Polen führt, steht ein Einsatzwagen der Polizei. Stichprobenartige Kontrollen der Beamten. „Wenn sie weg sind, bringen Schleuser die Migranten über die Grenze. Unmittelbar dahinter lassen sie sie aussteigen. Dann müssen die sich alleine durchschlagen“, erklärt der Ex-Ortsvorsteher.

Um nicht einer Polizeistreife zu begegnen, würden die Migranten die Straße meiden. „Sie schlagen sich abseits der Wege durch das unbewohnte Gelände der Oderinsel.“ Der JF zeigt Schwagerick ihren Weg. An einer Stelle zwischen der Insel und dem Vorfluterkanal verläuft ein kleiner Damm. „Hier gehen sie rüber“, sagt er, würden dann querfeldein einen Bogen um das Dorf herum einschlagen, um unbemerkt zu bleiben. „Sie kommen dann immer wieder mal an Außengehöften vorbei.“ Für die dort Wohnenden ein beklemmendes Gefühl. „Wenn der Mann gerade weg ist und die Frau allein zu Hause ist und plötzlich kommen da Syrer oder Afghanen über ihren Hof gelaufen, wird den Leuten mulmig.“

Und in unmittelbarer Nähe der Autobrücke entsteht zudem gerade eine neue Eisenbahnbrücke. Küstrin-Kietz wird dann auch per Schiene von Polen aus erreichbar sein. Auch für weitere Migranten. Und dann noch das Ausreisezentrum als Sonderzugabe obendrauf? Für Gerhard Schwagerick ist das zuviel für den kleinen Ort.

Gemeinsam mit der Bürgerinitiative will er den Bau stoppen. Und damit an seinen Erfolg von 2012 anknüpfen, als er ebenfalls per Bürgerinitiative der Einbruchskriminalität den Kampf ansagte. „Das Konzept hat sich bewährt, die Situation hatte sich danach deutlich verbessert“, sagt er. Seine Miene hellt sich bei diesem Satz ebenso auf wie der Himmel, an dem der kräftige Wind erste Löcher in die grauen Wolkenschwaden reißt. Sollte Gerhard Schwagerick auch dieses Mal Erfolg haben, klappt es vielleicht ja doch noch mit dem Traum vom Seniorenheim.