© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 20/24 / 10. Mai 2024

Solidarität – aber nicht mit jedem Opfer
Verletzte Wahlkämpfer: Für die brutale Attacke auf einen SPD-Politiker wird die AfD mitverantwortlich gemacht
Lorenz Bien

Etwa 3.000 Menschen versammelten sich noch am Sonntag im Dresdner Stadtteil Striesen, zur selben Zeit kamen an die 1.000 Personen zum Brandenburger Tor in Berlin. „Wir werden nicht weichen gegen diejenigen, die die Demokratie verächtlich machen“, betonte die Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (Grüne) während der Dresdner Demonstration, neben ihr waren auch die Bundesvorsitzende der SPD, Saskia Esken, Kulturministerin Claudia Roth (Grüne) und der ehemalige Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) angereist. In Berlin waren die Bundestagsabgeordneten Ricarda Lang (Grüne) und Kevin Kühnert (SPD) anwesend. 

Kurz zuvor war bekanntgeworden, daß es im Zusammenhang mit dem EU-Wahlkampf zu mehreren körperlichen Angriffen auf Wahlhelfer und Politiker gekommen war. Besonders der Fall des sächsischen SPD-Spitzenkandidaten Matthias Ecke schien für die Demonstranten ausschlaggebend zu sein. Der Politiker war am Freitag abend beim Plakatieren von einer vierköpfigen Tätergruppe derart schwer attackiert worden, daß er in ein Krankenhaus befördert und dort operiert werden mußte. Derzeit geht die Dresdner Polizei davon aus, daß die gleiche Gruppe nur wenige Minuten zuvor einen 28jährigen Wahlkampfhelfer der Grünen körperlich angegriffen hatte. Später stellte sich ein 17jähriger Jugendlicher freiwillig der Polizei und erklärte, Ecke mehrfach ins Gesicht geschlagen zu haben. Auch die anderen Täter seien mittlerweile identifiziert, teilte das Landeskriminalamt Sachsen am Montag mit. Bei mindestens einem der Tatverdächtigen sollen die Ermittler Hinweise auf eine rechtsextreme Gesinnung gefunden haben.

Einen Tag nach dem Dresdner Vorfall traf es den niedersächsischen AfD-Landtagsabgeordneten Holger Kühnlenz. Während er einen Infostand in Nordhorn betrieb, bewarfen ihn zwei vermummte Personen zunächst mit Eiern und schlugen ihm anschließend ins Gesicht. Im nordrhein-westfälischen Essen hängten der Grünen-Bundestagsabgeordnete Kai Gehring und sein Parteikollege Rolf Fliß gerade Wahlplakate auf, als sie mit einer Gruppe Männern von „südländischem Phänotyp“ in Streit gerieten; beide erhielten Schläge gegen den Kopf und den Hals.

„Es ist sehr deutlich, daß diese Gewaltbereitschaft nicht vom Himmel fällt“, schlußfolgerte die SPD-Politikerin Saskia Esken während ihrer Rede in Dresden. Es sei das Resultat einer gesellschaftlichen Spaltung und einer Verächtlichmachung der Demokratie. In erster Linie schuldig sei dabei die AfD. „Wer denkt wie ein Nazi, wer redet wie ein Nazi, den müssen wir als Nazi bezeichnen“, feuerte Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Hendrik Wüst in Berlin hinterher: „Die AfD ist eine Nazipartei“. Innenministerin Nancy Faeser (SPD) erklärte, der Rechtsstaat werde „mit einem harten Vorgehen und weiteren Schutzmaßnahmen für die demokratischen Kräfte in unserem Land reagieren“.

Bei Gewaltdelikten wird die AfD am häufigsten Opfer

 Der AfD-Vorsitzende Tino Chrupalla verurteilte die Gewalt ohne Schuldzuschreibungen: Er wünsche Ecke „viel Kraft und rasche Genesung“ schrieb der Politiker auf dem sozialen Netzwerk X. „Physische Angriffe gegen Politiker aller Parteien verurteilen wir zutiefst. Wahlkämpfe müssen inhaltlich hart und konstruktiv, aber ohne Gewalt geführt werden.“

Das Heute-Journal des ZDF verbreitete währenddessen eine Statistik über die Zahl der Angriffe auf Politiker aus dem Jahr 2023, sortiert nach Parteien. Demnach seien Vertreter der Grünen die am häufigsten attackierte Gruppe, mit 1.219 Vorfällen, ein deutlicher Abstand gegenüber der AfD, die mit 478 Vorfällen am zweithäufigsten angegriffen werde. Die Zahlen beruhen auf der Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der AfD vom Januar 2024. Tatsächlich ist die Zahl der Angriffe dort jedoch noch deutlich schärfer ausdifferenziert – so umfaßt die Zahl 1.219 in erster Linie verbale Angriffe wie Beleidigungen und Drohungen. Bei Gewaltdelikten ist es hingegen die AfD, die am häufigsten Opfer wird. Ganze 86mal wurden Vertreter der Partei im Jahre 2023 körperlich attackiert, 62mal Vertreter der Grünen. Daß sie das Ranking der Beschimpften und Bedrohten anführen, ist zudem eine recht neue Entwicklung: Von 2019 bis 2021 war die AfD am meisten betroffen, im Jahr 2022 wurde sie erstmals von den Grünen überholt. Im Bereich „Gewaltdelikte“ war die AfD seit 2019 jedes Jahr am meisten betroffen, mit einer Ausnahme – 2022 gab es mehr Gewalttaten gegenüber Grünen. 

Vor weiterer Gewalt warnte der Vorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt. Aufgrund des starken Personalmangels bei der Polizei sei die Behörde nicht in der Lage, gegen extremistiche Täter vorzugehen. „Deutschland muß sich in den kommenden Jahren darauf einstellen, daß Übergriffe gegen Politiker weiter zunehmen werden“, sagte er der NZZ. Faeser kündigte derweil eine Sonderkonferenz von Bund und Ländern an. Dort soll über Schutzmaßnahmen beraten werden.