Herr Professor Kepplinger, was darf man im Internet noch sagen: noch zu viel oder schon zu wenig?
Hans Mathias Kepplinger: Dazu empfehle ich jedem einen Blick in unser Grundgesetz! Dort finden Sie in Artikel 5 die Meinungsfreiheit als ein Grundrecht, inklusive einer Garantie der Pressefreiheit und des Verbots einer Zensur.
Das heißt?
Kepplinger: Grundsätzlich darf man alles sagen, was nicht gegen das Recht verstößt.
„Die Botschaft hör ich gern, allein“ – sieht man ins Internet – „mir fehlt der Glaube“.
Kepplinger: Das Internet kannte Goethes Faust zwar nicht, ich verstehe aber, was Sie sagen wollen. Allerdings existiert in jeder Gesellschaft über den rechtlichen Rahmen hinaus auch noch ein kultureller für das, was als sagbar akzeptiert wird.
Eben, aber etwa das kulturelle Tabu, ein Wort wie „Sex“ – beziehungsweise damals „Verkehr“ etc. – nicht öffentlich auszusprechen, wurde bereits ab 1918 nach und nach aufgegeben. Bei Youtube dagegen herrschen mitunter noch Kaisers Zeiten: Wer „Sex“ – oder eine Reihe anderer Wörter, darunter „Corona“ – sagt, riskiert, demonetarisiert zu werden. Influencer müssen sie mit Geräuschen überdecken, ihren Klang verzerren oder sie, wie einst im katholischen Mädchenpensionat, umschreiben. Das hört sich dann mitunter an, wie Schweizer Käse aussieht: lauter Löcher. Ist das nicht bizarr?
Kepplinger: Internetbetreiber sind private Unternehmen, und die haben Aktionäre. Da wird nun einmal alles vermieden, was schädlich fürs Geschäft sein und Werbekunden vertreiben könnte.
Die Gründe sind klar. Die Frage ist, wo führt das hin?
Kepplinger: Nun, Sie müssen auch bedenken, daß das Internet wie die Katholische Kirche ist: Global und also auch darauf geachtet werden muß, was weltweit gesellschaftlich gebilligt wird.
„Nicht immer haben jene recht, die die totale Freiheit fordern“
Ist es also gut oder schlecht, daß die EU nun auf Basis des im Februar vollständig in Kraft getretenen „Gesetzes über digitale Dienste“, dem „Digital Services Act“ (JF 10/24), ein Prüfverfahren gegen Meta, den Mutterkonzern von Facebook und Instagram, begonnen hat?
Kepplinger: Dabei geht es darum, zu prüfen, ob Meta genug gegen irreführende Werbung und Desinformation unternimmt. Ob Nutzer sich über Inhalte angemessen beschweren können. Oder ob Wissenschaftler ausreichend Zugang zu Daten bekommen. Nichts davon erscheint mir schlecht.
Das Problem ist ein klassisches: Die Desinformation des einen ist die Wahrheit des anderen – und umgekehrt.
Kepplinger: Eben deshalb prüft die EU ja nun erst einmal. Warten wir also doch ab, ob und was sie findet. Allerdings, die Vorstellung, daß alle alles verbreiten können sollen, halte ich für falsch.
Wo ist die Grenze?
Kepplinger: Kein Zweifel, man sollte mit Blick auf das Grundrecht der Meinungsfreiheit großzügig sein. Zum Beispiel würde ich aber nicht wollen, daß Horrorvisionen ungehindert verbreitet werden.
Was meinen Sie, etwa, daß Klimaerwärmung oder Masseneinwanderung fatale Folgen haben können?
Kepplinger: Nein, denn beides sind keine Horrorvisionen, sondern reale Möglichkeit und über solche muß man sprechen. Ich meine zum Beispiel, eine Macht würde absichtlich Viren freisetzen, um Millionen umzubringen, oder die Russen bereiteten unmittelbar einen Atomangriff vor.
Wäre darunter vor Februar 2022 nicht auch die Warnung vor einer russischen Invasion der Ukraine gefallen? An die damals die meisten Politiker und Experten hierzulande, ebenso wie die Ukraine selbst, nicht glaubten.
Kepplinger: Und das war unglaublich naiv! Denn jeder, der in die Geschichte schaut, weiß, daß Rußland als Staat ohne natürliche Grenzen selbstverständlich dazu tendiert, sein Territorium auszuweiten. Wie einfältig, zu glauben, nur weil wir in Deutschland so denken, würde sich auch Moskau mit dem begnügen, was den Russen nach der Niederlage im Kalten Krieg geblieben ist. Und mithin ist es ebenso naiv zu glauben, daß wir unsere Bundeswehr ruhig weiter unterfinanzieren können, weil wir uns nicht mehr verteidigen können müßten.
Sicher, aber zeigt das nicht, wie heikel das Vorgehen gegen Desinformation ist? Weil manche sich später als Information – und als die wahre Desinformation das Vorgehen gegen sie – erwiesen hat.
Kepplinger: Das Problem ist, daß es neben Realisten immer auch Phantasten, ja manche Spinner gibt. Zum Glück hatten wir in der Bundesrepublik lange Realisten im Amt, begonnen mit Konrad Adenauer, der sich nicht auf die verführerische Stalin-Note von 1952 eines wiedervereinigten, aber neutralisierten Deutschlands eingelassen hat. Bis hin zu Helmut Kohl, der 1989/90 nicht auf die Forderung etlicher westdeutscher Medien einging, die Wiedervereinigung als Zusammenschluß zweier gleicher Staaten zu vollziehen. Oder Gerhard Schröder, der gemeinsam mit Joschka Fischer eine Beteiligung am Irak-Krieg 2003 verhinderte. Entscheidend ist also, daß die Politik mit Augenmaß handelt und sich nicht von Stimmungen treiben läßt.
Sie plädieren für einen vernünftigen Dialog. Und um die Regeln für eben diesen geht es ja beim EU-„Gesetz über digitale Dienste“. Was uns zum Ausgangspunkt des Gesprächs zurückführt: Was ist noch nötige Regulierung und was bereits als solche getarnte Zensur?
Kepplinger: Das ist ein Konflikt, den es schon einmal gab, als im 18. und 19. Jahrhundert Zensur und Pressefreiheit miteinander rangen. Ausgegangen ist er zugunsten letzterer. Und dieser Linie sollten wir auch in der Debatte um die neuen sozialen Medien folgen. Dabei dürfen wir aber nicht vergessen, daß der Kampf gegen eine unumschränkte Pressefreiheit keineswegs nur illegitim war. So hatte die Sensationspresse bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Ausmaß angenommen, das es besser nicht gegeben hätte: mit erfundenen Geschichten und gefälschten Berichten, zum Beispiel über Krankheiten, die es gar nicht gab. Damit will ich natürlich nicht der Zensur das Wort reden, aber darauf hinweisen, daß die Dinge nicht so einfach sind. Nicht immer haben jene recht, die totale Freiheit fordern. Dazu kommt, daß das Verständnis, wie Medien organisiert sind, wie sie funktionieren, was sie sollen und dürfen etc. auch kulturell sehr unterschiedlich sein kann. So gab es nach 1945 im Westen das Bestreben, ein Rundfunkwesen nach Weimarer Vorbild zu gestalten, also zentralistisch organisiert und unter starker staatlicher Aufsicht. Was übrigens von der französischen Besatzungsmacht unterstützt wurde, weil es dem Verständnis von Rundfunk entsprach, das auch in Frankreich herrscht. Dennoch hat es sich nicht durchgesetzt, sondern das von den britischen und amerikanischen Besatzungsbehörden unterstützte Modell einer pluralen Rundfunklandschaft.
Weil es Briten und Amerikaner unterstützt haben?
Kepplinger: Nein, auch wenn das natürlich eine Rolle spielte, es waren die deutschen Entscheider, bei denen es eine Mehrheit fand. Und ich meine, es hat sich gezeigt, daß es die richtige Entscheidung war. Ebenso wie die plurale Reorganisation der Presse. Zwar gab es in der Weimarer Republik viel mehr Zeitungen – etwa 1.300, gegenüber circa 320 Tages- und 16 Wochenzeitungen heute – die aber fast alle sehr klein und damit für sich unbedeutend waren. Wohingegen es nach 1945 gelang, ein Netz regionaler Schwerpunktblätter zu bilden. Anders als etwa in Frankreich oder den USA – wo sich die bedeutenden Zeitungen in Paris, vielleicht noch in Bordeaux, beziehungsweise an der US-Ost- und Westküste konzentrieren und im Rest des Landes fast nur Provinzblätter erscheinen – sind die führenden Titel in Deutschland relativ ausgewogen verteilt: nicht nur in Berlin, auch in Hamburg, München, Frankfurt, Düsseldorf, Essen, Dresden, Mainz etc.
„Journalisten sollten sich nicht als Politiker mißverstehen“
Aber offenbar hält der inhaltliche Pluralismus nicht mehr, was sein formaler verspricht, wie der Erfolg alternativer Medien zeigt. Das belegen auch Studien, etwa im Februar der Uni Mainz, die ARD und ZDF einen Linksdrall attestiert. Und das im April veröffentlichte „Manifest für einen neuen öffentlich-rechtlichen Rundfunk“, das 38 aktive ÖRR-Mitarbeiter unterzeichnet haben (33 allerdings anonym) kritisiert, daß „sich die Öffentlich-Rechtlichen in der Praxis am Meinungsspektrum der parlamentarischen Mehrheit orientieren“.
Kepplinger: Richtig ist, es hat sich auch bei meinen Studien beobachten lassen, daß die Landessender mit der Zeit eine Färbung annahmen, die der Partei entsprach, die lange ein Bundesland regierte. Warum? Weil die Parteien ihre jeweiligen Leute in den Rundfunkanstalten fördern, ihre Karrierechancen also besser waren. Insofern, ja, hat die Politik Einfluß. Aber es ließ sich auch beobachten, daß in der Regel die Journalisten so viele Eigenständigkeit entwickelten, daß ihre ursprüngliche politische Herkunft keine allzu große Rolle mehr spielte. Vor allem jene, die über eine CDU-Mitgliedschaft in die Sender kamen, legten größten Wert darauf, nicht mit Unions-Positionen identifiziert zu werden. Und bei SPD-Leuten war es immerhin nicht die Partei, mit der sie gleichgesetzt werden wollten. Von Liebdienerei gegenüber der Politik konnte also nicht die Rede sein. Und mir erzählte etwa ein Hauptabteilungsleiter des später im SWR aufgegangenen Südwestfunks, wie Helmut Kohl ihn oft durchs Telefon derart anschrie, daß er den Hörer von sich halten mußte, um etwas zu verstehen. Er hätte aber den Teufel getan, sich nach dem zu richten, was der Kanzler wollte.
Lange waren die Medien kritisch, weil sie und die Politik verschiedene gesellschaftliche Ziele hatten. Das änderte sich spätestens bis 2015: seitdem schwingen beide, nicht in allen, aber in wesentlichen Fragen weitgehend gleich, etwa in der Klima-, Energie- oder Coronapolitik, bei Migration, Islam, AfD oder dem Ukrainekrieg.
Kepplinger: Dieser Trend ist generell problematisch, denn Journalisten sollten sich nicht als Politiker mißverstehen. Das heißt nicht, daß sie keine politische Meinung haben dürfen, natürlich dürfen sie das! Sie haben aber der Versuchung zu widerstehen, dieser in ihrer Berichterstattung einfach nachzugeben. Dafür gibt es eigene Formate, wie etwa den Kommentar.
Das sollten sie tun – aber tun sie es auch?
Kepplinger: Auch dazu habe ich Studien angestellt, die alle ergaben, daß es natürlich auch Einfärbungen gab, im großen und ganzen aber darauf geachtet wurde, daß es fair zuging.
Aber kann heute davon wirklich noch die Rede sein?
Kepplinger: Es gab immer schon auch Ausnahmen. Mir war Franz Josef Strauß nicht sympathisch, aber wie man zuweilen mit ihm im Fernsehen verfuhr, das spottet jeder Beschreibung. So wurden etwa in eine Wahlkampfrede, wo er sich oft schwitzend und mit rotem Kopf in Rage redete, Szenen eines Catch-Turniers geschnitten, das zufällig zur gleichen Zeit in dem großen Gebäude stattfand.
Für heftige Kritik hat der Umgang mit der Hamburger Islamistendemo geführt, auf der ein Kalifat gefordert und von einem Redner gedroht wurde: „Deutschland, Politik und Medien, ihr solltet euch wohlbedacht positionieren – gegenüber Muslimen, Islam und Allah! Denn werden die Karten neu gemischt und der schlafende Riese erwacht, werdet ihr zur Rechenschaft gezogen!“ Woraufhin die Menge „Allahu akbar!“ brüllte. Nichts davon in der „Tagesschau“. Erst anderntags erschien auf tagesschau.de ein Bericht des NDR-Regionalfernsehens, der aber Drohung und Kalifat-Forderung verschweigt. Und die ZDF-Kurznachrichtensendung „heuteXpress“ kategorisiert die Islamistendemo als „rechtsextrem“. Was der Sender nach Kritik auf seiner Korrektur-Seite richtigstellte.
Kepplinger: Zunächst einmal, die Demonstration war rechtlich zulässig. Eine andere Frage ist aber, was dort gesagt und wie das zum Teil berichtet und minimalisiert wurde. Das ist schon peinlich, um nicht zu sagen, in puncto journalistischer Ethos ehrlos.
Drei Verschleierungsversuche – das ist doch kein Ausrutscher. Weist das nicht auf systemisches Versagen hin?
Kepplinger: Das sehe ich nicht. Aber Freiheit gibt es nicht umsonst. Die Bürger müssen die Medien kritisch hinterfragen, weil auch Journalisten keine Heiligen sind.
Ist es angesichts der Mißstände bei den Etablierten wirklich überzeugend, sich bei der Regelung für soziale Medien an ihnen zu orientieren, wie Sie nahelegen?
Kepplinger: Keine Regelung verhindert Mißstände, Probleme und Gefahren. Und natürlich kann man Verbesserungen vornehmen, darauf zielte ja unter anderem auch meine jahrzehntelange Arbeit. Aber: Jede Gesellschaft braucht auch einen Konsens, um zu funktionieren. Und das bedeutet, daß wir nicht darum herumkommen, über den rechtlichen Rahmen hinaus auch einen gesellschaftlichen abzustecken, in dem Journalismus sich bewegt. Und das heißt, bei großem Respekt für die Meinungsfreiheit unvermeidlicherweise eben auch, daß nicht jeder alles sagen kann.
Prof. Dr. Hans Mathias Kepplinger: Der Kommunikationswissenschaftler und Politologe war bis 2011 Geschäftsführender Leiter des Instituts für Publizistik an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz. Er begann als Assistent am Institut für Publizistik von Elisabeth Noelle-Neumann, mit der er eng zusammenarbeitete. Gemeinsam gehören sie zu den Wegbereitern der „Mainzer Schule“, die die Wirkung von Medien analysiert. Kepplinger publizierte zahlreiche Bücher, darunter „Die Demontage der Politik in der Informationsgesellschaft“ (1998), „Die Mechanismen der Skandalisierung. Die Macht der Medien“ (2005) und „Totschweigen und Skandalisierung. Was Journalisten über eigene Fehler denken“ (2017). Zuletzt erschien „Risikofallen und wie man sie meidet“ (2021). Geboren wurde er 1943 in Mainz.
www.kepplinger.de