© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 20/24 / 10. Mai 2024

Mehr Kritik wagen
Wissenschaftsfreiheit: Universitäten kranken am ideologischen Untertanengeist
Till Kinzel

Die deutschen Universitäten – von den Schulen schweigen wir – sind in schlechter Verfassung. Politische Korrektheit triumphiert allenthalben; natürlich ist man gegen „Rechts“, antirassistisch und klimaneutral. Aber wie steht es um das freie Denken und das Streben nach Wahrheit statt sozialer Konformität? Da darf man Zweifel anmelden, wenn selbst Universitätsleitungen ihre Aufgabe darin sehen, Aktivismus jenseits ihrer Kernaufgaben zu betreiben – angefangen beim geisttötenden Gendern. 

Gegen solche intellektuellen Mißstände, so könnte man denken, ist bessere Bildung vonnöten. Aber: Bildung hilft nicht immer. Manchmal gilt sogar das Gegenteil. Denn auch und gerade auf den formal höheren Stufen des Bildungssystems fallen die Menschen außerordentlich leicht einer sophistischen Propaganda zum Opfer – weil sie nämlich denken, sie seien als Intellektuelle besonders prädestiniert, alles zu durchschauen. Tatsächlich ist aber heute Bildung die Grundvoraussetzung dafür, zum Objekt von Propaganda werden zu können, wie man bei Jacques Ellul nachlesen kann.

Woran krankt unser Bildungssystem? Es leidet an „Polarisierung“, nämlich der Einschränkung des Gesichtskreises auf einen allzu engen Ausschnitt des (vermeintlichen) Wissens und der Wirklichkeit. Wie die Scheuklappen eines Kutscherpferdes sorgt die Polarisierung dafür, daß auch formal Hochgebildete zu fanatischen Ideologen oder deren Gefolgsleuten werden können. Diese aber finden sich heute auch im akademischen Betrieb und entwickeln dort eine aktivistische Betriebsamkeit. Damit aber entsteht auch ein Problem für die Wissenschaftsfreiheit, weil auch von innerhalb der Universitäten die innere („ethische“) Bindung an Wissenschaftspflichten zugunsten der Politisierung in Frage gestellt ist. Akademische Freiheit ist nicht identisch mit Meinungsfreiheit, denn letztere steht nicht unter Begründungspflicht. 

Der Zweck staatlich alimentierter Hochschulen besteht aber nicht darin, irgendwelchen politischen Meinungen ein Spielfeld frei zu räumen. Leider kann man sich aber heute nicht mehr sicher sein, daß das, was aus den Universitäten kommt, auch Wissenschaft ist. Die schon länger zu beobachtende „Flucht vor Wissenschaft und Vernunft“, die sich auf vielen Gebieten auswirkt, hat sich inzwischen verstetigt. Dazu gehört die ideologiegetriebene Installierung von zahlreichen Genderprofessuren, ebenso wie die Forderung an Antragsteller, sich klima-, gender- und sonstwie -gerecht zu positionieren. 

All dies ist selbst als ein politischer Eingriff in den Wissenschaftsbetrieb zu verstehen, der den Abgrund der Krise aufzeigt – und auch der Grund dafür ist, warum aus den Universitäten selbst keine Lösung ihrer gegenwärtigen Probleme zu erwarten ist. Denn diese Universität hat sich mit ihren Spitzenfunktionären durch ihre willfährige Selbstideologisierung zugleich selbst zum Problem und zum Profiteur des Wissenschaftsmainstreaming gemacht. Das wissenschaftliche Establishment ist heute von der Forschungsförderung bis zur Personalpolitik aufs engste mit den Kräften der Politischen Korrektheit vernetzt.

Wenn die Universität solchermaßen am Ende ist, muß über einen neuen Anfang nachgedacht werden. Vielleicht hilft dabei ein Blick zurück ins Mittelalter und eine Erinnerung an Platon. Wenn es Freiheit bei der Wahrheitssuche geben soll, dann muß es eine freiheitliche Streitkultur in der Wissenschaft geben. Diese kann nur dort gedeihen, wo Fanatismus, Diffamierung Andersdenkender und Unduldsamkeit so weit wie möglich eingedämmt werden. 

Josef Pieper, lange ein populärer Philosoph, präsentierte in einer Berliner Rede von 1964 über den „Verderb des Wortes und die Macht“ einen Grundlagentext der Medien- und Sprachkritik. Er nahm an der Zerstörung des Wahrheitsbezuges durch sophistische Strategien und Theoreme Anstoß: „Akademisch heißt antisophistisch“. Sophistik zeichnet sich dadurch aus, daß Wissen instrumentell in bezug auf Machtinteresseren verwendet wird. Der sogenannte Aktivismus in der heutigen Wissenschaftslandschaft ist daher ein solches sophistisches Phänomen. Denn zwischen dem Interesse an der Wahrheit, das der Wissenschaftler als Wissenschaftler hat, und dem Interesse an politischem Erfolg, den der Wissenschaftler als Aktivist erwünscht, besteht eine Spannung. 

Um sie einzuhegen, empfiehlt sich die Erinnerung an die Gesprächskultur der mittelalterlichen Disputationen. Bevor man eine Position kritisiert, muß der Disputant die Thesen des Gegners aus sich selbst heraus darlegen und sich von diesem bestätigen lassen, daß er genau das meine. Erst dann war es legitim, zur Kritik anzusetzen. Und diese Kritik darf nicht über die stigmatisierende Etikettierung von Gegnern laufen, indem man sie etwa als „Klimaleugner“, „Corona-Leugner“ oder ähnliches von vornherein ausgrenzt. 

Akademische Disputationen sind also nicht dasselbe wie ein enthemmter Meinungsstreit, der in politischen Dingen anderen Gesetzen folgen mag. Nun ist es unstreitig, daß sich das Mittelalter nicht wiederherstellen läßt. Eine regulative Idee dieser Art wird jedoch dringend benötigt – schon als Aufforderung zur Selbstdisziplinierung in bezug auf moralische Gewißheit und unreflektierte Absolutheitsansprüche. Sie könnte so ein Gegengewicht zu der unguten Moralisierung auch des wissenschaftlichen Diskurses sein, die ein Langzeiteffekt der 68er-Zeit ist. Sie ist eines der größten Übel unserer Zeit: Denn Moralisierung verdrängt jene Sachlichkeit, die in der Universität ethisch und intellektuell geboten ist. 

Die Zurückdrängung der überbordenden Moralisierung würde auch die innere Gefährdung der Wissenschaftsfreiheit durch die Universitäten selbst reduzieren. Die Universitäten müssen – notfalls durch ein Gesundschrumpfen – dazu gebracht werden, sich wieder als einen Raum empirisch-rationaler Wahrheitsfindung zu verstehen. Hier können dann, wie es Ernst Topitsch vor über 50 Jahren sagte, „sowohl die Ideologien der an der Herrschaft Sitzenden wie die der nach der Herrschaft Strebenden gleichermaßen der Kritik ausgesetzt“ werden. Das wäre bitter nötig.