Mit einem sanften Lächeln empfängt mich meine Großmutter: „Schön, daß du da bist.“ Ich schließe sie in die Arme und wünsche ihr mein aufrichtiges Beileid. Ich begrüße die anderen Verwandten. Den Großteil von ihnen habe ich seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr gesehen. Schade, daß es oftmals erst solcher Anlässe bedarf, um sich wieder neu zu finden, denke ich mir.
Ein Gefühl von Scham steigt in mir auf: Hätte ich mich, trotz der vielen privaten und beruflichen Verpflichtungen, öfter sehen lassen müssen? Aber zu einer gesunden Verbundenheit sind stets mehrere Personen nötig, entlaste ich mich selbst. Dennoch: Meinen Großvater hätte es sicher sehr gefreut, wenn wir uns etwas Zeit füreinander nehmen.
Im Mittelpunkt der Erinnerungen standen nicht Geld oder Karriere, sondern der Charakter des Toten.
Und so versuche ich mich bei der Trauerfeier ein wenig anzunähern. Ein durchaus schwieriges Unterfangen, wenn man aufgrund von langjähriger Abwesenheit nicht wirklich viel an Gesprächsstoff beizutragen hat. Während ich mich daher vorrangig auf das Zuhören konzentriere, fällt mir eines sehr schnell auf: Bei all dem, was erzählt wird, geht es in keinster Weise um Geld, Besitz oder Karriere, sondern in erster Linie darum, wie mein Großvater als Mensch gewesen ist: War er liebevoll und freundlich? Hat er oft gelacht? War er mutig genug, seinen Träumen zu folgen? Hatte er ausreichend Zeit für die Familie oder hat er schlichtweg zu viel gearbeitet?
Unweigerlich kommt mir Tucholsky in den Sinn: „Der Friedhof liegt voller Menschen, ohne die die Welt nicht leben konnte.“ Etwas erschrocken stelle ich fest, daß genau diese Worte irgendwann wohl auch als Resümee für mein eigenes Leben herhalten könnten. Nicht unbedingt, weil ich mich für etwas Besonderes halte, sondern eher, weil ich mich selbst immer wieder bereitwillig und ohne Rücksicht auf Verluste ins Hamsterrad begebe. Ganz nach dem Motto: Es geht nicht ohne mich.
„Der Abschied ist die schwerste Lektion unseres Lebens“, genau diese Worte sind es, die viele oft in stiller Trauer sagen. Mit dem heutigen Tag erkenne ich darin jedoch noch eine andere Wahrheit: Diese Lektion ist zwar sehr schwer – aber dafür wohl eine der wichtigsten im Leben.