© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 19/24 / 03. Mai 2024

Makelbehafteter Vater an der Wiege der Nation
Der Osteuropahistoriker Rudolf A. Mark hat eine Biographie Symon V. Petljuras, des Begründers der modernen Ukraine, vorgelegt
Jürgen W. Schmidt

In Deutschland ist der Gründervater der modernen Ukraine Symon Petljura (1879–1926) kaum bekannt, während er in der Ukraine zu den wichtigsten Persönlichkeiten gehört. Im russischen Zarenreich, in der damals zu 93 Prozent ukrainisch besiedelten Stadt Poltawa, kam er am 22. Mai 1879 zur Welt. Vater und Mutter waren von kosakischer Herkunft und gehörten zu den städtischen Mittelschichten. Der Vater betrieb ein kleineres Fuhrunternehmen. Symon Petljura sollte gemäß dem Willen seiner Eltern eine Sekundarschulbildung im örtlichen Geistlichen Seminar erwerben. Jedoch interessierte sich der junge Petljura weniger für Bibelauslegung, Kichenslawisch und Kirchengesang, sondern mehr für die im Zarenreich verbotene ukrainische Nationalliteratur. Im Zarenreich galten nämlich die Belorussen als „Weißrussen“ und die Ukrainer als „Kleinrussen“ und somit als nahverwandte Russen in der slawischen Völkerfamilie. Wer sich jedoch zu sehr mit ukrainischer Nationalliteratur beschäftigte, wollte womöglich gar kein echter Russe sein oder hing separatistischen Gedanken an. Folglich war eine Beschäftigung mit nationalukrainischem Gedankengut aus politischen Gründen unerwünscht und wurde polizeilich verfolgt. 

Wenn es ein Ukrainer im zaristischen Rußland zu etwas bringen wollte, wofür ihm ansonsten alle Möglichkeiten offenstanden, dann mußte er sich persönlich „russifiziert“ geben. Petljura beging als höherer Schüler des Geistlichen Seminars in Poltawa 1901 den Mißgriff, den bekannten ukrainischen Musiker und Komponisten  Mykola V. Lysenko (1842–1912) ins Seminar einzuladen, wozu der Schulchor Lieder in verpönter ukrainischer Sprache sang. Der pikierte Seminarleiter warf daraufhin Symon Petljura kurz vor dem Schulabschluß vom Seminar und sorgte zusätzlich dafür, daß Petljura an keiner anderen Schule in Rußland seinen Abschluß nachholen bzw. gar ein Universitätsstudium aufnehmen konnte. 

Petljura fand bei den Sozialisten im Untergrund Anschluß

Hatte sich Petljura bislang nur im Bannkreis nationaler und nationalistischer Ideen bewegt, nahm er nun wie viele seiner Generation Verbindung zu den Sozialisten auf und wurde Mitglied der Revolutionären Ukrainischen Partei (RUP). Rednerisch war er begabt und voller Humor, so daß er in der Partei schnell einen Ruf als Agitator genoß. Seinen Lebensunterhalt bestritt Petljura mit journalistischen Arbeiten, und er unterstützte das Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften General Malama bei historischen Forschungsarbeiten zur Geschichte des Zaporoger Kosakenheeres, was zusätzlich seinen nationalistischen Geist beflügelte. 

Eine Zeitlang lebte Petljura auch, um aus dem Blickfeld der russischen Polizei zu verschwinden, um 1904 im benachbarten Österreich-Ungarn. Die Westukraine mit ihrer Hauptstadt Lemberg war damals als „Galizien“ Teil des österreichischen Staates, und Petljura machte sich hier mit den „Ruthenen“ genannten Westukrainern bekannt, deren Ideen über einen zu schaffenden ukrainischen Nationalstaat sich stark vom Gedankengut der im Zarenreich lebenden „Ost-ukrainer“ mit ihrer Hauptstadt Kiew unterschieden. Doch bald schon kehrte Petljura wieder in das Zarenreich zurück, trat in die Ukrainische Sozialdemokratische Arbeiterpartei (USDRP) ein und betätigte sich rege in Sankt Petersburg und Moskau politisch und journalistisch. Obwohl Petljura ein Sozialist war, blieb er immer eher gemäßigt und ließ sich weder von den russischen Sozialdemokraten noch von den „Bolschewisten“ um Lenin und Trotzki als Parteigänger gewinnen. Als der Erste Weltkrieg ausbrach, erwies sich Petljura als Patriot. Er setzte nicht auf den Zerfall des Zarenreiches, sondern trat in die russische Militärverwaltung ein und stieg bis 1917 zum Hauptmann auf. Als sich nach der Februarrevolution 1917 unübersehbare Verfallsprozesse des russischen Imperiums zeigten sowie der Separatismus unter den im russischen „Völkergefängnis“ zusammengehalten Ethnien und Völkerschaften einen Aufschwung nahm, begab sich Petljura nach Kiew und wurde Mitglied im neuen Ukrainischen Parlament, der „Zentralna Rada“, welche anfangs nur einen ukrainischen Staat als autonome Republik innerhalb Rußlands anstrebte. 

Während in Rußland alles immer mehr auf Bürgerkrieg hindeutete, in welchem man nicht nur soziale, sondern auch nationale Widersprüche blutig austrug, wurde Petljura, der über gewisse militärische Erfahrungen zu verfügen schien, im Juli 1917 zum „Kriegsminister“, später zum „Obersten Hetman“ der Ukraine berufen. Anfänglich gelang es Petljura, gefährliche Situationen zu meistern und das vom Deutschen Reich in der Ukraine gebildete Marionettenregime um Pawel Skoropadsky zu zerschlagen. Petljura mußte in den Jahren von 1917 bis 1921, um einen ukrainischen Staat zu bilden und dessen Lebensfähigkeit herzustellen, gegen viele Feinde zugleich kämpfen. 

Die Bolschewisten schickten die Rote Armee in die Ukraine, weil man eine Separation nicht zulassen wollte. Gleichzeitig bekämpften die russischen Weißgardisten unter General Denikin gleichfalls den entstehenden ukrainischen Staat unter Petljura, weil sie als Anhänger großrussischer Ideen sich ebenfalls nicht auf eine unabhängige Ukraine einlassen wollten. In der Ukraine selbst blühte das Banditenwesen, und  Anarchisten wie „Väterchen Machno“ machten  Petljura das Leben schwer. Mal wollte Machno mit Petljura verbündet sein und mal bekämpfte er ihn. Zudem handelte Machno wie ein echter Bandit, beraubte die Bevölkerung und quälte die gerade in der Ukraine zahlreich lebenden Juden mittels häufiger mörderischer lokaler Pogrome. 

Petljura, dies sei zu seiner Ehre gesagt, mißbilligte diese Pogrome und suchte sie nach Möglichkeit zu verhindern, doch fehlte ihm hierzu schlicht die Macht. Auch manche Nachbarstaaten trieben ihr Spiel mit der Ukraine, welche die Wirrnisse 1917/18 nutzen wollte, um einen souveränen Staat zu konsolidieren. Polen und Rumänien wollten gerade dies verhindern oder, falls dies nicht gelang, die Ukraine als Juniorpartner einspannen. 1920 unterlag die von Petljura geführte ukrainische Armee endgültig ihren Gegnern, und der Traum vom ukrainischen Staat war zu Ende. Petljura ging in die Emigration nach Paris, wo ihn am 25. Mai 1926 der Jude Scholom Schwartzbard aus Rache wegen der blutigen Pogrome in der Ukraine erschoß. 

Rudolf A. Mark: Symon V. Petljura – Begründer der modernen Ukraine. Verlag Brill-Schöningh, Paderborn 2023, gebunden, 348 Seiten, 39,90 Euro