© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 19/24 / 03. Mai 2024

Das Inferno im Talkessel
Vor 70 Jahren errangen kommunistische Viet Minh bei Dien Bien Phu einen monumentalen Sieg gegen Frankreich, der das Ende seines Kolonialreiches in Indochina einläutete
Alain Felkel

Das Jahr 1953 begann für die Divisionen der Viet Minh unter dem Oberbefehl von General Ngyuen Giap vielversprechend. In nur wenigen Wochen überrannten die Vietnamesen die französischen Stellungen im Königreich Laos – damals noch Teil der „Union française“ – bis Nachschubprobleme und Gegenangriffe der Franzosen die Offensive stoppten. Trotz des Abbruchs der Operation hatte Giap das Corps expéditionaire français en Extrême-Orient („CEFEO“) dazu gezwungen, sich entgegen seiner Absicht militärisch in Laos zu engagieren und so seine Truppen zu verzetteln. 

In Paris reifte die Einsicht, daß der mittlerweile acht Jahre andauernde Krieg auf diese Weise nicht zu gewinnen war. Da für den 8. Mai 1954 eine internationale Friedenskonferenz in Genf anberaumt war, die sowohl den Koreakrieg als auch den Indochinakonflikt beilegen sollte, wurde jetzt eine politische Lösung gesucht, die es Frankreich ermöglichte, sich ehrenvoll aus Indochina zurückzuziehen. Als Faustpfand dafür sollte ein militärischer Erfolg dienen. Premierminister René Mayer ernannte General Henri Navarre zum Kommandeur des CEFEO. Er löste den bisherigen Oberkommandierenden General Raoul Salan ab, der sich zu defensiv gezeigt hatte. 

Navarre entschied sich dafür, im Tal von Dien Bien Phu einen befestigten Luftlandebrückenkopf zu errichten und die Viet Minh dort zur Schlacht zu stellen. Dien Bien Phu liegt 250 Kilometer von Hanoi entfernt an der Grenze zu Laos in einer Hochebene in der Nähe des Flusses Nam Youm. Der Talkessel ist 16 Kilometer lang, neun Kilometer breit und wird von etwa 500 Meter hohen Hügeln und dichtem Dschungel umsäumt. Der Plan erschien auf den ersten Blick erfolgversprechend. Damals verlief die Nachschublinie der in Laos kämpfenden Viet Minh durch das Tal. Außerdem hatte sich in der Schlacht von Na San 1952 die Taktik eines eingeigelten, nur aus der Luft versorgten Stützpunktes bestens bewährt. Navarre vertraute auf die technisch-materielle Überlegenheit des CEFEO sowie auf die Kampfkraft seiner Elitetruppen und unterschätzte dabei die Viet Minh.  

Am Morgen des 20. November 1953 landeten im Rahmen von „Operation Castor“ 2.200 französische Fallschirmjäger im Tal von Dien Bien Phu, das sie nach kurzen Gefechten mit den Viet Minh einnahmen. Daraufhin begannen die Franzosen mit dem Ausbau des Luftlandebrückenkopfes. In wenigen Wochen entstanden folgende Stützpunkte: im Norden „Gabrielle“, im Osten „Béatrice“, „Dominique“ und „Éliane“, im Westen „Anne-Marie“, „Huguette“, „Claudine“, „Françoise“ und „Junon“, in der Mitte das Hauptquartier mit der Hauptlandepiste, und schließlich weitab gelegen im Süden „Isabelle“ sowie eine Reservelandebahn.  Jeder Stützpunkt war in mehrere Posten unterteilt. Zusätzlich sicherten Schützengräben, Bunker und Stacheldrahtverhaue die Stellungen. Im Dezember 1953 umfaßte die französische Garnison nahezu 10.000 Männer, Granatwerfer sowie sechzig Geschütze. Den Oberbefehl führte Oberst Christian Marie de Castries. 

Die Franzosen kalkulierten nicht mit Giaps schlagkräftiger Artillerie

Während die Franzosen sich in Dien Bien Phu eingruben, umzingelte sie Giap, indem er unbemerkt von ihnen die umliegenden Hügelketten mit 50.000 regulären Soldaten besetzte. Zusätzlich wurden die Kämpfer von etwa 150.000 Männern und Frauen unterstützt. Unermüdlich schlugen sie Trassen durch den Dschungel und transportierten sie Nachschub zu den vietnamesischen Stellungen, darunter auch die schwere Artillerie, deren Geschütze man für den Transport zerlegt hatte – eine logistische Meisterleistung. Langsam und geduldig hortete Giap Munition und Proviant. Gleichzeitig ließ er nach einem ausgeklügelten System heimlich Artilleriestellungen ausheben. Klug verschob er die seit Januar immer wieder von seinen chinesischen Militärberatern geforderte Offensive auf Anfang März, bis alles bis ins letzte Detail vorbereitet war. Dann schlug er los.  

Am 13. März eröffneten die Viet Minh die Schlacht mit einem Angriff auf den Stützpunkt „Gabrielle“, zwei Tage später erfolgte die Attacke auf „Béatrice“. Die französischen Positionen wurden innerhalb zweier Tage trotz heftiger Gegenwehr von den Vietnamesen überrannt. Am 17. März ging das Werk „Anne-Marie“ verloren. Doch dies war erst der Auftakt. Ab Ende März konnten die französischen Flugzeuge aufgrund des Wetters, der zerschossenen Piste und des schweren Flakfeuers der Viet Minh nicht mehr in Dien Bien Phu landen. Ab jetzt mußten die Belagerten mit Fallschirmabwürfen versorgt werden. Nur mit Mühe und unter großen Opfern gelang den Franzosen die Versorgung der Dschungelfestung mit Nachschub und Ersatztruppen aus der Luft. Dabei waren unter den etwa 3.500 per Fallschirm im Kessel abgesetzten Fremdenlegionären etwa 1.600 Deutsche, die bei der Legion ihre neue Heimat fanden. Vergeblich nahm die französische Artillerie das Fernduell mit den Geschützen der Viet Minh auf. Giaps Kanoniere schalteten mit ihrem präzisen Feuer ein Geschütz nach dem anderen aus, so daß der Oberbefehlshaber der französischen Artillerie verzweifelte und Selbstmord beging. 

Aber noch hatte Giap die Schlacht von Dien Bien Phu nicht gewonnen. Am 28. und 29. März zerstörten Fallschirmjäger und Fremdenlegionäre die feindlichen Batterien nahe „Anne-Marie“. Noch einmal keimte Hoffnung auf französischer Seite auf. War das der Wendepunkt der Schlacht? Giap gab bald die passende Antwort. In einer weiteren Offensive eroberten seine Truppen am 30. März den Großteil von „Dominique“ und am 14. April den gesamten Norden des Kessels sowie ein Drittel der Start- und Landebahn, worauf 2.000 Mann nordafrikanischer Kolonialinfanterie desertierten. 

Von nun an wurde das Ringen apokalyptisch. Monsunregenfälle verwandelten das Schlachtfeld in eine riesige, von Granattrichtern zerwühlte Schlammpiste, die von Dutzenden Flugzeugwracks übersät war. Angelockt vom Verwesungsgeruch Tausender umschwirrten Myriaden von gelben Fliegen die Gefallenen, während die Lebenden erbittert um die Stützpunkte „Huguette“, „Dominique“ und „Éliane“ rangen, die mehrmals den Besitzer wechselten. Währenddessen mißlang ein Entsatzangriff der Franzosen im Rücken der Viet Minh. Nun konnten nur noch massive Bombenangriffe, ja vielleicht sogar der Abwurf der Atombombe seitens der US Air Force das Blatt wenden. Aber US-Präsident Dwight D. Eisenhower lehnte diesbezüglich ein Hilfsersuchen aus Paris ab. 

Am 7. Mai gab Giap der Dschungelfestung den Gnadenstoß. Nach heftigem Artilleriebeschuß überrannten 20.000 Vietminh die französischen Stellungen. Daraufhin ergaben sich die letzten Überlebenden. Während der gesamten Belagerung hatten die Franzosen 3.500 Gefallene zu beklagen. 11.000 Mann gerieten in Gefangenschaft und wurden in Gewaltmärschen zu Vietminh-Stützpunkten im Nordosten des Landes gebracht. Nur die Hälfte von ihnen erreichte lebend ihr Ziel. Auf vietnamesischer Seite waren 8.000 Mann gefallen und 20.000 verwundet worden. Das CEFEO hatte die Entscheidungsschlacht des Indochinakriegs verloren. 

Das Timing des Sieges konnte nicht besser sein. Nur einen Tag später begannen in Genf die Friedensverhandlungen. Am 21. Juli 1954 stimmten die kriegsführenden Parteien unter Vermittlung der Uno dem Kompromiß zu, Vietnam entlang des 17. Breitengrades in eine Nord- und Südhälfte aufzuteilen und die Eigenständigkeit der Königtümer Kambodscha und Laos zu akzeptieren. 

Für Frankreich bedeutete der Friedensvertrag von Genf das Ende seiner Kolonialherrschaft in Laos, Kambodscha und Vietnam. 1956 verließen die letzten Einheiten des französischen Expeditionskorps Indochina.