Das Alte Testament ist nicht nur ein Buch des Glaubens, sondern auch ein Dokument der Religionsgeschichte. Das wird etwa an Passagen deutlich, die einen Wandel der Vorstellungen zeigen. So im Fall der „Höhen“, also jener Bergheiligtümer, die seit je Orte der Begegnung mit den Göttern waren. Man kann für Israel auf den Horeb oder den Sinai hinweisen, und in 1. Könige 3.2 hieß es lapidar: „das Volk opferte noch auf den Höhen; denn es war noch kein Haus gebaut dem Namen des Herrn bis auf diese Zeit“. Das heißt, es gab noch keinen Tempel in Jerusalem. Dessen Errichtung bedeutete einen massiven Einschnitt, insofern damit Zentralisierung und Reform des Kults eingeleitet wurden. Ein Prozeß, der allerdings nicht ohne Rückschläge ablief. Denn derselbe Salomo, der den Tempel errichten ließ, geriet alternd unter den Einfluß der fremden Prinzessinnen, mit denen er sich vermählt hatte, und so „baute Salomo eine Höhe dem Kemosch, dem greulichen Götzen der Moabiter, auf dem Berge, der vor Jerusalem liegt, und dem Milkom, dem greulichen Götzen der Ammoniter“ (1. Könige 11.7).
Salomo tat damit kaum anderes als das, was im Alten Orient üblich und aus diplomatischer Sicht klug war, und die Anbetung auf den Höhen hat auch in späterer Zeit für Israel an Attraktivität nie ganz verloren. Nur setzte sich allmählich die Vorstellung durch, daß Gott daran kein Gefallen habe, es sich in jedem Fall um Götzendienst handelte. Verbunden damit war eine immer schärfere Trennung der israelitischen von jeder üblichen, also heidnischen, religiösen Praxis, wenn es um die Heiligkeit der Berge ging. Welchen Grad an Verbreitung die hatte, kann man der aktuellen Sondernummer der Zeitschrift Antike Welt entnehmen, die sich dem Thema „Erhaben und den Göttern nahe – ‘Heilige Berge’ der Antike“ widmet.
Kristallisationspunkte religiöser Ideen
In einem einleitenden Text des Heftes kommen die beiden Klassischen Archäologen Michael Blömer und Achim Lichtenberger auf die „transzendente Verbindung“ zu sprechen, die seit alters zwischen Berg und Mensch besteht: „Auf allen Kontinenten und zu allen Zeiten haben Berge einen tiefen Eindruck hinterlassen, was dazu führt, daß markante Gipfel zu Kristallisationspunkten religiöser Ideen geworden sind.“ Abzulesen sei das schon am hohen Alter archäologischer Funde, die in Berghöhlen und auf Berggipfeln geborgen wurden und offenbar in einen religiösen Kontext gehörten.
Aber wichtige Indizien sind auch die übereinstimmenden Charakteristika von Berggottheiten oder von Deutungen der Berge als Wohnorte von Göttern oder einem Berg als Zentrum der Welt. Wobei manche dieser Berge nur als mythische Vorstellung existierten, wie etwa der Mandara der Hindus, der sich auf dem Panzer einer Schildkröte im Urmeer erhob, das aus Milch bestand. Mit Hilfe der Schlange Vasuki haben Götter und Dämonen dieser Überlieferung nach den Milchozean verquirlt und damit die Schöpfung im engeren Sinn vorangetrieben.
Blömer und Lichtenberger führen dieses etwas bizarr wirkende Beispiel an, um zu zeigen, wie stimulierend das Bild des Berges auf die religiöse Vorstellungskraft des Menschen wirken kann. Im Mittelpunkt der übrigen Beiträge stehen allerdings Vorderasien und die Mittelmeerwelt. So wird ein Bogen geschlagen, der vom Argaios in Kappadokien, heute Erciyes Dagi, einst „der Weiße“ der Hethiter, über die heiligen Berge Griechenlands und Italiens bis zu denjenigen des Alpengebiets und der Iberischen Halbinsel reicht. Als die zuletzt genannten Gebiete unter römische Herrschaft gerieten, stießen die Eroberer auf Kultplätze, deren Geschichte teilweise über Jahrtausende zurückreichte. Das war ihnen zwar nicht bewußt, erklärt aber viel von der erstaunlichen Kontinuität, mit der hier angebetet und geopfert wurde, obwohl die Namen der Götter wechselten.
Der Ölberg im Fokus aller drei monotheistischen Religionen
Ein Phänomen „langer Dauer“, das auch nach der Christianisierung nicht vollständig verschwand. Im Schlußbeitrag thematisieren Blömer und Lichtenberger deshalb die Bedeutung des Bergs in den monotheistischen Religionen. Dabei wird deutlich, daß die ursprüngliche Frontstellung Israels gegenüber den „Höhen“ als Orten der Abgötterei nach und nach an Bedeutung verlor und in Christentum wie Islam andere Aspekte in den Vordergrund traten. So spielte für Juden und Muslime die Prophezeiung des Sacharja eine Rolle, daß der Messias am Ölberg in Jerusalem erscheinen und im benachbarten Kidrontal Gericht halten werde, weshalb Gläubige danach strebten, in dessen Abhängen begraben zu werden. Der Berg Morija, auf dem der Tempel stand, war auch der Platz, an dem Abraham bereit war, seinen Sohn Isaak Gott zu opfern, und von dort soll der Legende nach Mohammed in den Himmel geritten sein.
Einen anderen Akzent erhält die religiöse Topographie in den Evangelien durch die „Bergpredigt“, die Christus als „zweiter Mose“ hielt, die Versuchung auf einem Berg durch Satan, der ihm die Reiche der Welt zeigte, die Verklärung auf dem Tabor und die Bedeutung des Ölbergs für die Passionsgeschichte. In diesen Zusammenhang gehört schließlich auch das Erscheinen des Gotteslamms auf dem Berg Zion am Ende der Zeiten.
Mit gutem Grund heben die Autoren für diese Zusammenhänge auf den Aspekt „sakraler Attraktivität“ ab. Es dürfte tatsächlich in der Geschichte der Menschheit wenig geben, was mit solcher Verbreitung auf solche Dauer Bezugspunkt des Glaubens war wie die Berge, die offenbar nie nur Markierungspunkte in der Landschaft hergaben, sondern immer mehr als das, nämlich Plätze, an denen die Wahrscheinlichkeit größer ist als anderswo, will man dem Numinosen begegnen.
Kontakt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft / Herder-Verlag 2024. Das Heft hat 128 Seiten mit 118 Farb-, 10 s/w-Abbildungen und einer Karte. Es kostet 17,95 Euro.