Auf einmal ist Naima weg. Zehn Monate ist das jetzt her. Im Sommer war es. Naima ist, wie am Namen unschwer zu erkennen ist, ein Mädchen mit Migrationshintergrund und ihre Geschichte eine, die in den vergangenen Jahren schon öfter erzählt wurde, etwa in dem ARD-Zweiteiler „Brüder“ (2017). Es geht um eine junge Frau, die im zivilisierten, aufgeklärten und wohlstandsverwöhnten Westen aufgewachsen ist und dann wegen ihres Freundes, eines frischgebackenen Gotteskriegers, zur sogenannten Terrorbraut wird. Sie folgt ihm in das vom IS kontrollierte Rakka. Die eigene Tochter bei einer sunnitischen Terrororganisation – das ist zweifelsohne der Super-GAU. Und den erlebt der Deutschkurde Murad, Naimas Vater, in „Der große Wunsch“. Der Buchtitel ist übrigens die deutsche Übersetzung des arabischen Namens Murad.
Alles dreht sich um Murads Wunsch, seine Tochter zurückzubekommen, aber auch die glückliche Familie, die es mit ihr einmal gegeben hat. Die Reise des schwermütigen Helden in das Krisengebiet könnte auch, wie er sich selbst eingesteht, ein „Egotrip“ sein, die Suche nach Naima ein Anlaß, Spuren seiner „eigenen Herkunft nachzuforschen und, praktischerweise, dabei vor den Problemen in Deutschland davonzulaufen“.
„Der große Wunsch“ ist der Roman einer inneren Zerrissenheit, ein melancholischer Abgesang auf die transnationale Identität. Reflexionen über den Riß in Menschen, die zwei Länder ihre Heimat nennen können, sind das nervös pochende Herz des Romans. „Gemäß seiner Herkunft hätte ihm als Mann aus dem sogenannten Orient das armselige Nest hier in den Bergen viel näher sein müssen“, wundert sich Murad. Der Versuch seiner Tochter, zurückzukehren in eine Welt, die ihr erst recht fremd sein muß, erscheint da noch unbegreiflicher. Wie kann sie sich nach einer Heimat gesehnt haben, die praktisch nichts mit ihr zu tun hat? Ist da etwas Unsichtbares in transnationale Identitäten eingeschrieben, das sie in die Länder zurückzieht, denen ihre Vorfahren entstammen, obwohl sie diese nie betreten haben? Das sind Gedanken, die Murad martern. Für sich selbst kommt der freie Journalist, dessen Eltern vor vielen Jahren nach Deutschland kamen, zu dem Schluß, daß er ein selbstverständliches Heimatgefühl wie ein indigener Deutscher nie haben wird; „ich bin nie dort, wo ich hingehöre“, bilanziert er bitter. Hat das womöglich seine Tochter gespürt? Hat das eine Leere in ihr hinterlassen, die sie nun zu füllen hofft?
Polemik gegen „das Gequatsche über Dekolonialisierung“
Die Indifferenz des Romans gegenüber den Vernichtungsreflexen der linken Antidiskriminierungsinquisition, die solche Gedanken als Rassismus brandmarken würde, wenn ein weißer Deutscher sie zu äußern wagte, läßt einen wieder frei atmen. Ebenso die sich komplementär dazu verhaltende Polemik gegen „das Gequatsche über Dekolonialisierung“ und den pseudowissenschaftlichen „Seminar-Spuk“ oder „den Quatsch, den du in den Nachrichten hörst“, die Sherko Fatah in Dialogpassagen unterbringt.
In einer Art Himmelfahrtskommando hat sich der besorgte Vater auf eigene Faust in die Osttürkei begeben und wartet in einer kleinen Ortschaft in der Nähe der Stadt Mardin unweit der Grenze zu Syrien auf einen Kontaktmann der Schleuser, die Naima in dem Terrorstaat ausfindig machen sollen. Den Kontakt vermittelt hat sein Freund Aziz, der zusammen mit Murad eine Filmfirma gegründet hat und durch frühere Reportagereisen Verbindungen zu Einheimischen hat. Aber es gibt keine Garantien. Die Ungewißheit nagt an dem introvertierten Mann, dessen interkulturelle Ehe mit einer Deutschen zerbrochen ist.
Als der Bote nach Wochen des Wartens endlich auftaucht, präsentiert er Aufzeichnungen aus einem Audiotagebuch und ein paar Fotos, auf denen die Gesuchte aber wegen der Vollverschleierung nicht zu erkennen ist. Auch die Stimme in den Sprachnachrichten erkennt Murad nicht wieder, seine Ex-Frau Dorothee, mit der er in unregelmäßigem Kontakt steht und die ihn meist mit Vorwürfen nervt, genausowenig. Ist er Betrügern aufgesessen, die nur ein paar schnelle Dollar verdienen wollen? Fortan wird er mit immer neuen Ausschnitten aus dem Audiotagebuch versorgt, in denen eine deutsche IS-Braut häppchenweise ihren Alltag beschreibt. Und häppchenweise werden sie Murad von dem Boten auch übermittelt. Sonst tut sich wenig.
Vieles an dem Roman des Adelbert-von-Chamisso-Preisträgers erinnert an die existentialistischen Erzählungen von Albert Camus, an den einsamen Lehrer Daru und seinen Gefangenen aus „Der Gast“ oder an Meursault aus „Der Fremde“: die staubtrockene Einöde, in der der Autor seine Geschichte spielen läßt, das Überwiegen innerer Handlung per Introspektion, der merkwürdig passive, lethargische Charakter der Hauptfiguren, der so gar nicht zu den dramatischen Umständen passen will, in die sie geraten, die eher nüchterne, unaufgeregte Sprache, in der sich der Charakter dieser entwurzelten Helden spiegelt. Und natürlich ist auch „Der große Wunsch“ auf seine Weise ein Existenzdrama. Murad hätte sich als Protagonist einer weiteren Novelle bestens eingefügt in die Sammlung „Das Exil und das Reich“, die sechs Geschichten von Camus vereinigt.
Seitenlang muß der Leser zu Beginn des Romans der leidenden Hauptfigur dabei folgen, wie er im öden, felsigen Hochland an der Grenze zu Syrien seinen eigenen Gedanken nachhängt und sich dabei von widrigen Wetterbedingungen gebeutelt, von einer Magenverstimmung gepeinigt und von wilden Hunden verfolgt fühlt. Ein euphorischer Blick auf die Welt, in der er lebt, gelingt Murad selten. Zuweilen neigt er zum Zynismus: Zu seiner Tochter fällt ihm ein, daß „Jugend [...] zu ihrem größeren Teil Anmaßung“ ist. „Als „Kinderkreuzzug von wohlstandsverwahrlosten Verlierern der Migration“ verspottet er die transnationalen IS-Kämpfer, die in Syrien eine Art Abenteuerreise in die eigene ethnokulturelle Prägung unternehmen. Seine Familie ordnet er drei verschiedenen Generationen zu, spricht unverblümt von Parallelgesellschaften und analysiert derart kritisch das Problem der Migranten, die geistig und kulturell nie in Deutschland angekommen sind (S. 212ff.), daß man ein Fachreferat zu lesen vermeint, das die Zivilfahnder von Correctiv als Einladung verstehen könnten, den Urheber all dieser Gedanken bei Gelegenheit mal zum Zielobjekt staatlich geförderter Überwachungsmaßnahmen zu machen.
Es kommt der Verdacht auf, nur hingehalten zu werden
Murad kommt in einer Herberge unter, freundet sich mit seinen Wirten Abbas und Alija an, bezieht schließlich sogar das verlassene Haus des verstorbenen Großvaters, das etwas abseits der Herberge steht. Sie konfrontieren ihn mit jener Welt, die die seine hätte sein können, ihm aber, obwohl er die Sprache beherrscht, fremd ist. Er mietet sich den Fahrer Adnan, einen leutseligen jungen Mann, der ihn zum Zeitvertreib durch die Gegend kutschiert. Es sind kleine Ausflüge in die Geschichte. Ein Massengrab armenischer Genozidopfer, das als makabere Touristenattraktion dient, Stellungen und Schützengräben des Bürgerkriegs werden besichtigt. Murad lernt die kurdische Kämpferin Kara kennen, die an dem schweigsamen „Mann aus Almania“ Gefallen findet. Doch all das sind nur Episoden, die das zähe Warten auf den Ausgang des eigentlichen Dramas verkürzen sollen.
„Meine ferne Vielleicht-Tochter“ nennt Murad die inzwischen fast vertraute Stimme aus den Audiodateien. Die im Buch abgedruckten Eindrücke der anonymen jungen Frau sind ein geschickter Kunstgriff des 60jährigen Berliners, um einen Einblick in den Alltag und den Gemütszustand von Terrorbräuten zu gewähren. Aber er läßt bis zum Schluß in der Schwebe, ob es sich bei der Sprecherin wirklich um Naima handelt, was seinem Roman einiges an Glaubwürdigkeit raubt: Ist es wirklich so schwer, die Stimme der eigenen Tochter wiederzuerkennen? Und ihrer Mutter in Deutschland soll es trotz intensiven Nachforschens nicht gelungen sein, wenigstens den Namen des Jungen zu ermitteln, dem Naima aus Liebe nach Rakka gefolgt ist? Der kommt nämlich in dem Audiotagebuch vor. Der Verdacht, nur hingehalten zu werden, wird nicht nur bei der Hauptfigur im Verlauf der Handlung immer stärker, auch beim Leser. Mit Hilfe von Aziz kommt schließlich Bewegung in Murads Rettungsaktion. Als Rakka fällt – der Roman spielt 2017 – überschlagen sich die Ereignisse.
Sherko Fatah: Der große Wunsch. Roman. Luchterhand, München 2023, gebunden, 384 Seiten, 25 Euro