Als der 19jährige Goethe, aus Leipzig kommend, wo er bis dahin ohne Abschluß Jura studiert hatte, wieder nach Hause in seine Heimatstadt Frankfurt am Main zurückkehrte, empfand er sich „gleichsam als ein Schiffbrüchiger“, wie er später in seiner Autobiographie „Dichtung und Wahrheit“ notierte. An Schiffbruch und Schiffbrüchige dachte Goethe immer wieder während eigener Krisen oder der im Leben anderer. Der Philosoph und Soziologe José Ortega y Gasset wünschte daher 1932, zum hundertsten Todesjahr Goethes, von Deutschen endlich eine Biographie, die Goethe von innen betrachtet, was für ihn hieß, sein Lebensdrama zu vergegenwärtigen mit allen Umbrüchen und den damit verbundenen existentiellen Ungewißheiten. Denn Leben sei nur ein anderes Wort für Schiffbruch erleiden und ihn kämpfend überstehen.
Die Kultur ist das Holz, an das sich der Gefährdete klammert, um sich zu retten, was für den Spanier Ortega y Gasset heißt, in drohenden Untergängen an seiner Bestimmung festzuhalten und sich trotz aller Herausforderungen zu behaupten. Das Bewußtsein, stets vom Schiffbruch bedroht zu sein, wecke Kräfte, die Ausdauer verleihen und dabei helfen, zu überleben, ohne sich selbst zu verlieren.
Thomas Steinfelds voluminöse Lebensbeschreibung Goethes handelt von vielen Unsicherheiten, Fluchten, vergeblichen Mühen und Absichten, die den Dichter, Wissenschaftler und Beamten daran hinderten, sich in ungetrübtem Selbstbewußtsein, selig in sich selbst schwingend, zu entwickeln und eine harmonische Persönlichkeit zu werden.
Für den Kammerdiener gibt es keinen Helden, wie Goethe bemerkte („Maximen und Reflexionen“). Für den Sammler vieler Einzelheiten, auch sehr intimer, der wie ein Kammerdiener auch mit mancherlei Unzulänglichkeiten vertraut ist, die möglichst unter den Kleidern und ihr gemäßer Umgangsformen verborgen bleiben sollen, kann es deshalb nicht „den Helden der deutschen Kultur“ oder den zum ruhigen „Olympier“ verklärten Botschafter des Schönen und Wahren geben, den Bildungsbürger ergriffen würdigten. Vielmehr hätten die Unzulänglichkeiten der Menschen, das alltägliche Einerlei, die schreckliche Dürftigkeit des Lebens und der „verworrene Quark“, den viele als bedeutungsvolle Geschichte verstehen und ordnen möchten, Goethe ungemein skeptisch und mißmutig gestimmt und ihm gerade jene Freude vergällt, die alle wahrhaft Lebendigen zum besonnenen Tun begeistert, das Freude am Getanen gewährt.
Solche Entzauberung des Lebenskünstlers hat allerdings gar nichts mit den heroischen Anstrengungen des Schiffbrüchigen zu tun, der trotz aller Widrigkeiten nicht den Mut verliert, sein unerschöpfliches Ich dennoch zu einer unverwechselbaren Persönlichkeit zu formen. Denn der Mensch wirkt alles, was er vermag, im Zusammenleben durch seine Persönlichkeit.
Dieser sittliche Imperativ war Ortega y Gasset noch selbstverständlich und wie ihm vielen deutschen Humanisten. Seit der Goethezeit überlegten sie dauernd, wie es Einzelnen gelingen könne, sich über die natürlichen Gegebenheiten hinaus zum wahren Menschen zu bilden, der mit seiner geistigen Unabhängigkeit und Anmut andere dazu auffordert, das allzu Menschliche hinter sich zu lassen und mit einer inneren Freiheit tätig und tüchtig in die Welt auszugreifen.
Diese Ideen hatte Goethe nicht erfunden. Sie waren über Athen, Rom und das Christentum seit jeher mit dem Bild vom Menschen und seiner besonderen Würde verbunden, mit dem Humanismus und seinen jeweiligen Ausdrucksformen. Obschon heute ununterbrochen vom Menschen und den Menschenrechten die Rede ist, leben wir zum ersten Mal in Zeiten, die mit den Vorstellungen von der Person als Voraussetzung der Freiheit und dieser als Mittel zur Schönheit nichts mehr anfangen können.
Thomas Steinfeld, Jahrgang 1954 ehedem Literaturchef der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und Feuilletonleiter der Süddeutschen Zeitung, sind die ehemaligen Vorstellungen von Menschenbildung, beharrlicher Erziehung zu einer Ganzheit, ebenso geistreich wie gefällig, höchst fragwürdige Ideen, da doch das Selbst und das Ich in der sogenannten Postmoderne unwissenschaftliche „Einbildungen“ sind, die den Blick auf den wirklichen Menschen, wie er nun einmal ist, erheblich trüben.
Als Funktionselement in Prozessen, eingebunden in Strukturen, bleibt er wohl oder übel immer nur ein Bruchstück, weit davon entfernt, ganz sich selber anzugehören, weil Sachzwängen unterworfen und als Mittel für Zwecke gebraucht, die nichts mit ihm zu tun haben. Schon Friedrich Schiller sah darin Entfremdung. Goethe warnte davor, das Leben zu zerstückeln und als ein Sammelsurium von widrigen oder bequemen Zufällen zu betrachten. Es ist zwischen Gegensätze eingespannt, die wie Atmen und Ausatmen einander bedürfen. Deshalb geht es darum, das Entzweite – Natur und Kunst, Herz und Vernunft, Wandel und Beständigkeit – zu vereinen, was schwieriger sei als das jeweils Besondere noch weiter in zuletzt sonderbare Teile aufzuspalten. Thomas Steinfeld folgt diesem Rat Goethes nicht. Er reiht lebensgeschichtliche Fragmente aneinander, die höchstens eine fragmentarische, zersplitterte Existenz ahnen lassen. Goethe wußte, wie sehr der Mensch – und eben auch er – ein vielfach bedrängtes Wesen ist, allen möglichen Einflüssen ausgesetzt, die ihn von sich ablenken und auf Irrwege locken, manchmal heilsame, oft aber nur zu Abenteuern führend, aus denen herauszufinden große Mühen bereiten kann.
Da Thomas Steinfeld das Leben Goethes während einer unübersichtlichen Epoche von Untergängen der alten Welt und Übergängen mit ihren wechselnden Herausforderungen in geschickte oder hilflose Improvisationen auflöst, geraten ihm auch Goethes Werke zu fragwürdigen, in ihrer Widersprüchlichkeit oft nur irritierenden Dokumenten des Verhaftetseins im Moment, ob ihn billigend oder mit ihm hadernd. Manche Dramen nimmt er nur flüchtig zur Kenntnis, weil aristokratische Damen und Herren in ihrer so fernen Vergangenheit, wie etwa im „Torquato Tasso“, auf heutige Leser recht ermüdend wirken.
Mit solcher Ungeduld bestätigt er die Beobachtung des französischen politischen Denkers Alexis de Tocqueville in Amerika um 1835, daß Demokraten auf der Bühne das wirre Gemisch ihrer Lebensumstände, Gefühle und Gedanken erwarten, gar nicht willens, sich mit den Vorstellungen früherer Generationen auseinanderzusetzen. Warum Goethe einmal ein europäisches Phänomen war, mit dem sich Franzosen und Serben, Italiener oder Russen beharrlich auseinandersetzten, läßt sich bei Steinfeld kaum erahnen. Außer Hinweisen auf die in westlichen Lebens- und Wertegemeinschaften unvermeidlichen anglo-amerikanischen Bücher kommen andere Stimmen im Literaturverzeichnis nicht vor. Der Leser gewinnt den Eindruck, oder soll ihn gewinnen, als ob die Goethe-Forschung erst so richtig ab 1970 und dann fast ausschließlich in der Bundesrepublik eingesetzt habe.
Wenn die hauptsächliche Aufgabe dieser Biographie darin besteht, die Monumentalisierung Goethes, die Deutsche angeblich früher betrieben und übertrieben haben, rückgängig zu machen, so liegt es nahe, sich nicht weiter um das zu kümmern, worin sie einmal den Rang und die Größe Goethes erkennen wollten. Größe ist bei einem solchen Unternehmen eine überflüssige Kategorie.
Der Schweizer Kulturhistoriker Jacob Burckhardt erwähnte schon im späten 19. Jahrhundert unser Knirpstum, unsere Zerfahrenheit und Zerstreuung, die uns dabei im Wege steht, Größe richtig wahrnehmen und einordnen zu können. Jetzt geht es darum, Große, auch geistige Helden zu verknirpsen und der allgemeinen Mediokrität anzugleichen, wie sie Demokraten, ob im klassischen Athen oder im klassischen Bonn, schätzen und fördern. Sie pflegen einen heftigen Widerwillen gegen das Geniale. Den teilte Goethe nicht. Schon als Knabe war er „fritzisch“ gesonnen, voller Enthusiasmus für den großen König. Unter dem Eindruck dieses einzigartigen Monarchen, Menschen und Preußen schaute er von früh auf nach Norden, bis hinauf nach Königsberg, und es waren Berliner, die den Goethekult als ästhetische Religion zuerst unter den durch Bildung nach Freiheit strebenden Deutschen verbreiteten.
Die ästhetische Erziehung, das klassische, und auch preußische, Bildungsideal habe Deutsche, wie ihnen im Geltungsbereich des Grundgesetzes ununterbrochen beigebracht wurde, auf Sonderwege geführt und auf höchst problematische Gedanken gebracht. Daher empfiehlt es sich nicht, sich mit ihm weiter zu beschäftigen. Diese „deutsche Bewegung“, in der Kulturnation jedem Willigen dazu zu verhelfen, ein ganzer Mensch trotz unvermeidlicher Beschränkungen zu werden, ist mittlerweile extrem verdächtig.
Der Goethe Thomas Steinfelds ist ein Vorläufer des Bundesrepublikaners, der sich damit zufriedengibt, in der unvollkommenen Welt keine allzu großen Ansprüche zu stellen, um als Mitmensch unter Mitmenschen anderen zu gefallen und mit sich zufrieden zu sein. Dazu bedarf es nicht mehr, um mit Jacob Burckhardt zu reden, „das Offenhalten des Geistes für jede Größe, eine der wenigen Bedingungen des höheren geistigen Glückes“.
Thomas Steinfeld: Goethe. Porträt eines Lebens, Bild einer Zeit. Rowohlt, Berlin 2024, gebunden, 782 Seiten, 38 Euro