In Corona-Zeiten galten sie als Zukunftsmodell: Lieferdienste, die Lebensmittel nach Hause bringen. Weltweit wurden Milliarden investiert. Die 2015 in İstanbul gegründete Firma Getir schien der Aufsteiger zu sein. Das Unternehmen von Nazım Salur wurde mit Investorengeldern in dreistelliger Millionenhöhe überhäuft. Ende 2022 übernahm Getir den Konkurrenten Gorillas. Auf das Berliner Unternehmen von Kağan Sümer waren die Hauptstadtpolitiker mächtig stolz. Bei der Einweihung der Zentrale in der Rheinsberger Straße gab sich A- und B-Prominenz die Klinke in die Hand. Doch wie bei den süddeutschen Flugtaxi-Träumen war das Erwachen bitterböse.
Da kam die Rettung vom Bosporus gerade recht. Als Salur im Sommer 2021 seine erste Deutschland-Filiale eröffnete, war er voller Zuversicht: „Wir werden überall da sein, wo es auch Pizza-Lieferdienste gibt“, versprach er im Magazin Capital. Binnen zwei Jahren werde Getir in zehn deutschen Metropolen aktiv sein. Danach sollten kleinere Städte folgen.
„Quick Commerce ist eigentlich schon seit zwei Jahren tot“
Doch daraus wurde nichts. Zuletzt verhandelte Salur noch erfolglos mit Flink, dem letzten verbliebenen Konkurrenten in Deutschland. Die Umsatzzahlen waren jedoch einfach zu schlecht. Mittlerweile bereitet Getir seinen Marktausstieg aus allen Auslandsmärkten vor. Am 15. Mai soll in Deutschland Schluß sein. Einige der 1.800 Angestellten in Deutschland haben ihre Kündigungen bereits erhalten. Die Warenlager werden nach und nach geschlossen werden.
Auch in Großbritannien und den Niederlanden steht der Rückzug an. Dafür solle das Kerngeschäft in der Türkei weiter ausgebaut werden. Das Branchen-Portal Business Insider spekulierte hingegen, die zeitweise mit zwölf Milliarden Dollar bewertete Firma Getir stünde sogar vor der Auflösung. Der Großaktionär Mubadala, eine Investmentgesellschaft aus Abu Dhabi, habe die Geduld mit dem Management verloren, weil dieses kein tragfähiges Geschäftsmodell auf die Beine gestellt habe. Auf dem Höhenpunkt der Corona-Krise expandierte Getir in insgesamt neun Länder. Die schnelle Ausdehnung führte jedoch nie zu Gewinnen. Nach dem Ende der Corona-Maßnahmen flaute das Interesse an Lieferdiensten wieder ab.
Der Rückzug aus Chicago und Boston erfolgte bereits Ende 2023. Was aus der Filiale in New York wird, ist unklar. „Quick Commerce ist eigentlich schon seit zwei Jahren tot“, erklärte Branchenexperte Jochen Krisch im Capital-Interview. Der Ukrainekrieg habe dazu geführt, daß Investoren vorsichtiger wurden und sich aus gehypten Start-ups zurückzogen. „Die Lieferdienste fuhren vermehrt einen Sparkurs, auch weil die Menschen einfach nicht mehr so viel bestellten. Statt brummender Aufträge herrschte Konsumflaute“, so Krisch.
Und wegen der Inflation seien immer weniger Kunden dazu bereit, hohe Liefergebühren zu zahlen. Viele Waren seien oft vergriffen gewesen, zudem habe die Lieferzeit in aller Regel fast eine halbe Stunde gedauert. „Man braucht eine gewisse Relevanz, eine gewisse Mindestpräsenz – und sie waren einfach zu klein“, konstatiert Krisch. Und „der letzte Kilometer war der teuerste. Das konnte nicht mehr funktionieren.“
Beim Konkurrenten Flink haben mutige Investoren zuletzt weitere 100 Millionen Dollar in das schlecht laufende Geschäft gesteckt. Doch der Ertrag steht auf wackeligen Beinen. Vor wenigen Tagen verkündete das Berliner Unternehmen seinen Rückzug aus Frankreich. Zu den Geldgebern gehören der Einzelhändler Rewe sowie die Risikokapitalgeber Bond, Northzone und Cherry Ventures. Deren Geduld könnte bald erschöpft sein. Rewe hatte voriges Jahr mit einer „Notfall-Spritze“ die Flink-Übernahme von Getir noch verhindert. Seitdem frage man sich aber nach der Sinnhaftigkeit der teuren Investition. „Sobald etwa Liefergebühren genommen werden, fährt der Kunde eben häufig selbst die 300 Meter zum Supermarkt“, schildert Kai Hudetz, Geschäftsführer beim Institut für Handelsforschung in Köln, das Dilemma.